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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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Wort ist.
    Und wenn es Worte gibt, die meinen Ausstieg aus dieser nackten Welt unterschreiben und beglaubigen können, dann sind es die, mit denen ich mich freigeschrieben habe.
    Das ist Wortgewalt.
    In sanften Gewändern.
    Und das zersplitterte Ende.
    Denn meine Freiheit ist begrenzt und wankelmütig. Sie wirft Schatten in die Dunkelheit meiner umherirrenden Gedankengänge; sie zweifelt an sich selbst und an meinen Rechten.
    Sie nennt mich Ana.
    Ana till the end.
    Das ist die Überschrift meiner lauernden Nächte. Denn ich bin immer noch todkrank – auch wenn ich wieder angefangen habe zu essen und einigermaßen normal aussehe. Ein Körper verzeiht keine Wunden; er erinnert sich an jeden Einschnitt, an jede Narbe und an jeden hungrigen Tag.
    Wie gesagt, es kommt vor im Leben, dass man seine Zeit verpasst, dass man zu spät die Zielgerade erreicht – dass man zu früh stirbt.
    So wie Ana.
    Im Nachhall einer Ohnmacht.
    Im verschwendeten Auf und Ab der Gezeiten.
    Und ich. Ich?
    Was sage ich zum Abschied?
    Kein Wort, kein einziges Wort.
    Denn ich kenne eine Menge Sätze auswendig, aber keinen so fließend wie diesen.
    Und ich weiß: Davonkommen ist kein Versprechen.

[home]
    Hauptspiel
    H ey, Chase, warum geht dein Licht immer erst so spät an?«, fragt Hailie und betrachtet nachdenklich die Lampe an der Küchendecke von Chase’ Wohnung. »Bei uns zu Hause ist das anders.«
    »Also, meine kleine Erbse, das ist so«, erklärt Chase mit geheimnisvoller Stimme, »diese Glühbirnen sind ganz besondere Glühbirnen – es sind Energiesparglühbirnen. Ich wette mit dir, die Bundeskanzlerin hat mindestens zehn große Kisten davon zu Hause. Aber lassen wir das, denn mit Politik und ihren Trägern sollte man sich niemals an schwerelosen Tagen beschäftigen, und heute, heute will ich frei und unbeschwert sein. Wie an jedem schönen Tag. Also – wir waren bei dem Geheimnis um meine Glühbirnen, es ist schwer zu lüften, denn in diesen außergewöhnlichen Glühbirnen leben ganz genau hundertundsieben Glühwürmchen, alle handgefangen von Somalis, die in Usbekistan auf Wohngemeinschafts-Hausbooten wohnen. Und jedes Mal, wenn du auf den Lichtschalter drückst, werden die kleinen Würmchen wach und fangen an, aufgeregt hin und her zu fliegen. Dabei stoßen sie dann aneinander und beginnen aufgrund ihrer zauberhaften Phantasie zu leuchten. Es dauert natürlich einen kleinen Moment, bis alle hundertundsieben Glühwürmchen aufgewacht sind, und genau das ist der Grund, warum diese Lampen immer einen Augenblick länger brauchen, um einen Raum zu beleuchten. Vielleicht liegt es aber auch an meinen Räumen, die so unergründet und voll von unbegrenzten Möglichkeiten sind.«
    An dieser Stelle macht Chase eine Pause, aus rhetorischen Gründen, nicht um zu sehen, ob Hailie ihm Glauben schenkt, denn eines weiß Chase mit Sicherheit: Er braucht nur seinen Mund zu öffnen, und alle weiblichen Wesen auf diesem Planeten hängen voller Begeisterung an seinen Lippen, um auch ja jedes noch so sinnlose Wort, das er von sich gibt, aufzusaugen.
    »Wenn du genau hinguckst, meine kleine Erbse, dann merkst du sogar, dass das Licht in den ersten Minuten immer noch ein wenig heller wird. Das sind die verspäteten Glühwürmchen, Spätaufsteherwürmchen werden sie auch genannt, sie fangen immer erst ganz zum Schluss an zu leuchten, wenn alle anderen schon längst wach sind.«
    Chase’ Stimme klingt ganz danach, als hätte er soeben Sindbads Abenteuer neu erfunden. Und seine Augen glitzern vor Freude über dieses geteilte Geheimnis.
    »Hör auf, meiner Tochter so einen Schwachsinn zu erzählen!«, brummt Lady und bläst gelassen Kringel und Werwölfe aus dem Küchenfenster von Chase. »Sie ist fünf Jahre alt – nicht bescheuert. Das ist ein Unterschied, Chase.«
    »Ich weiß«, erwidert Chase fröhlich und hebt Hailie auf seinen Schoß. »Und meine wundervolle kleine Erbse hier weiß ganz genau, dass Chase-der-große-Zauberer ihr nur eine Geschichte erzählt, nicht wahr, meine Kleine?«
    Hailie lacht, nickt und streckt eine Hand aus, um über Chase’ Bartstoppeln zu streichen. Das macht sie gerne, weil sie findet, dass Chase sich dabei wie das Meerschweinchen ihrer besten Freundin Zoe anfühlt.
    »Und was sollte ich ihr denn auch sonst erzählen?«, meint Chase nachdenklich, den Blick auf seine immer heller werdende Küchenlampe gerichtet. »Etwa die Wahrheit?«
    Er schüttelt angewidert den Kopf, als könnte er sich nichts Schlimmeres
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