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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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luftleerer Raum.
     
    Ich bin gut darin, schlechte Freitage hinter vierfach verriegelter Wohnungstür mit einer Ansammlung von Messern und Skalpellen auf meinem Fußboden zu verbringen. Ich kann hervorragend einen ganzen Samstag über in meinem Bett liegen und geduldig darauf warten, dass die Stunden vorüberziehen. Ich bin ein absoluter Profi im Freitage-und-Samstage-Überstehen. Ich würde Bambi schlachten und ausweiden, um mich in Bambis Bauch verstecken zu können, nur damit mich keiner findet, der mich nicht finden soll. Ich würde alles tun, um nicht noch einmal entführt zu werden.
    Aber was ich an Sonntagen machen soll, das weiß ich nicht. Ich habe alles probiert, ich habe mir sogar einen eigenen Kalender entworfen, in dem es keine Sonntage gibt – da kam direkt nach dem Samstag der Montag. Es war fast schon demütige Kunst. Die zweite Version von diesem Kalender beinhaltete logischerweise nur noch die Tage von Montag bis Donnerstag; ich meine, wenn schon Manipulieren und Schummeln, dann richtig. Aber irgendwann habe ich angefangen darüber nachzudenken, den Donnerstag vielleicht auch noch wegzulassen, weil er zu nah am Freitag liegt, und den Montag sowieso, weil er der Tag nach dem Sonntag ist. Da blieb dann nicht mehr viel von der Woche übrig: Dienstag. Mittwoch. Dienstag. Mittwoch. Dienstag. Mittwoch.
    Ein Monat mit fünfzehn Wochen.
    Das nennt man dann verschwendete Zeit.
    Da ist es wahrscheinlich doch besser, die panische Freiheit zu spüren. Unpassend herumzustehen. Nirgendwo dazuzugehören. Ruhelos herumzurennen. An einer Feige zu knabbern. Die Feige wieder auszuspucken. Weil man zu feige ist, die Feige zu schlucken. Magensäure zu erbrechen. Umzukippen.
    Kein Wort zu sagen, kein einziges Wort.
     
    Es ist sieben Uhr morgens an einem Sonntag im Frühling, und ich stehe auf dem Balkon von Chase’ Wohnung. Ein paar Vögel zwitschern, und ich sehe ihnen zu, wie sie von einem Baum zum anderen fliegen und dann wieder zurück. Ja, es ist Sonntag. Aber an diesem Sonntag ist alles anders. Ich stehe nicht in meinem gläsernen Gefängnis. Ich drehe nicht durch. Meine Finger tasten nicht nach den letzten Spuren längst vergangener Einstiche.
    Dieser Sonntag riecht nach Tagesanbruch und Neuanfang. Wenn ich jetzt nicht aus Versehen von dem Balkon falle, dann kann ich noch alles haben, was ich will. Alles.
    Die Kirchturmuhr zwei Straßen weiter schlägt 7 . 00  Uhr. Ich verlasse den Balkon und ziehe mir meine Jeans und einen weißen Pullover an. Dann gehe ich mit verwuschelten, ungekämmten Haaren aus Chase’ Wohnung; leise klickend fällt hinter mir die Tür ins Schloss.
    Die Straßen sind leer. Alle anderen Menschen liegen noch in ihren Betten. Und es ist leicht zu erkennen, dass Berlin in den Morgenstunden eine andere Stadt ist. Ich mag diese Ruhe. Vielleicht ziehe ich ja eines schönen Tages in ein fremdes Land; in ein Land, in dem kein Mann wohnt, mit dem ich je geschlafen habe. Es wäre schön, eine neue Sprache zu lernen und ein sauberes Startkapital an Worten zu haben.
    Meine Schritte tragen mich wie von selbst durch die Straßen, ich brauche gar nichts dafür zu tun. Und mit einem dampfenden Becher voll heißem Kaffee setze ich mich schließlich auf eine Bank am Marktplatz, als wäre er das Ziel meiner Reise. Zwei Kinder spielen ganz alleine auf dem großen Klettergerüst unter den riesigen Baumkronen. Um diese Uhrzeit sind sie Könige auf ihrer Burg. Jedenfalls rufen sie sich das zu, und ich glaube ihnen jedes Wort.
    Der Kaffee ist bitter. Also stehe ich auf, gehe hinüber zum Bäcker, hole mir ein Tütchen Zucker und kaufe noch ein Käsebaguette dazu, dann setze ich mich wieder auf die Bank und sehe den beiden Königen bei ihren Spielen zu.
    Wie die Zeit vergeht.
    Wie ich innehalte.
    Inmitten meiner Flucht.
    Ich weiß nicht, wie meine Geschichte zu Ende gehen wird. Möglicherweise liege ich morgen schon tot auf den weißen Fliesen meines Badezimmers. Vielleicht aber auch nicht. Wenn ich es schaffe, gesund zu werden, wenn ich mich abwenden kann von Ana und von Mia, wenn ich mich ansehen kann, ohne zu Boden zu blicken, dann brauche ich keinen leeren Kühlschrank mehr, um den Tag zu überstehen.
    Und dann ist es egal.
    Ob ein Tag Freitag, Samstag oder Sonntag heißt.
    Mein Lächeln wird zwar nie wieder so aussehen wie damals, als ich sechs Jahre alt war und die Wohnung meines Nachbarn noch nicht von innen kannte – mein Lächeln wird nie wieder so aussehen wie damals, als ich noch nicht vergewaltigt
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