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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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niemals sagen durfte, das, was ich meinem Körper niemals zugestehen konnte. Das, was ich mir ausdrücklich verboten habe, und das, was mich so grausam in meine leeren Zwischenräume verbannt hat. Ich sage es nicht mit Nachdruck, ich sage es nicht wissend. Ich kann es nicht einmal in einer angemessenen Lautstärke aussprechen, ich würde es nie unterschreiben, und ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt noch ein Recht dazu habe. Aber ich sage es doch:
    »Ich habe solchen Hunger.«
    Die Tränen, die mir dabei in die Augen schießen, sind salzig, sie brennen schlimmer als alle zuvor. Etwas zerbricht in mir, etwas zersplittert; ich spüre die nackten Scherben in jede Faser meiner Haut stechen – scharfkantig und wütend.
    Ana starrt mich an, aus rabenschwarzen Augen.
    Tag für Tag hat sie mir die Regel Nummer eins erklärt:
    WIR HABEN KEINEN HUNGER! HÖRST DU ?
    NIEMALS !
    WIR HABEN KEINEN HUNGER !
    Und nun habe ich sie gebrochen. Die wichtigste Regel.
    Was passiert jetzt?
    Mit mir.

5
    E s kommt vor im Leben, dass man seine Zeit verpasst. Dass man zu spät die Zielgerade erreicht, wenn alle Mitbeteiligten schon längst nach Hause gegangen sind. Und es kommt auch vor, dass man beschließt, gesund zu werden – aber dann auf einmal feststellen muss, dass man zu viel Schaden an sich selbst verrichtet hat.
    Dass es zu spät ist.
    Denn Ana ist eine makabere Drahtseilartistin.
    Sie balanciert über einem gewaltigen Abgrund, ohne Sicherheitsnetz.
    Und irgendwann stürzt sie ab.
     
    Ana – kein Name kommt mir leichter über die Lippen als ihrer. Hungern ist der Ausdruck meiner Wortlosigkeit in diesem sprachverlorenen Raum. Und ich weiß nicht, ob ich es noch schaffen kann; ich weiß nicht, ob ich die Nachspielzeit habe, um wieder gesund zu werden. Aber ich weiß, dass ich hier sein möchte.
    Hier, in diesem Leben.
    Denn ich fühle mich. Und meinen Körper.
    Nach all den toten Jahren.
    Das ist die Rücksicht, die der Augenblick beinhaltet, in dem man die Vergangenheit erkennt. Mit all ihren Schatten und dem unerträglichen roten Licht. Es ist ein nacktes Geständnis, an eine mit Splittern bedeckte Welt, umgeben von den Rohfasern ihres unergründlichen Verstandes.
    Und es ist ein Nachruf.
    Denn ich heiße nicht mehr Felia. Ich bin nicht mehr so leicht zu ficken. Und das kleine Mädchen in meinem Kopf – es heißt Lilly.
    Lilly. Genau wie ich.
    Es ist kein Fehler, sich dazu zu bekennen.
    Es ist ein Glück, einen Namen zu besitzen.
    Und meine ungestümen Freunde, sie zünden knisternde Wunderkerzen und Siegeslichter an; sie backen tonnenweise Kuchen und sprechen übermütig von meinem Ausstieg.
    Ausstieg.
    Ein schönes Wort.
    Wenn es darum geht, einen Zug zu verlassen oder ein Auto. Von mir aus auch eine Pokerpartie. Aber kann man aus der Prostitution aussteigen? Das klingt so, als würde man aufhören, und dann ist es vorbei. Aber das ist es nicht. Man steigt nicht aus. Man steigt viel eher um. Man hört auf, seinen Körper gegen Geld einzutauschen oder auf dem Strich zu stehen und sich Preisschilder mit leuchtend roten Zahlen an die Stirn zu kleben. Man stöhnt nicht mehr für den Augenblick. Aber man nimmt sie trotzdem mit – all die Freier, unter denen man gelegen hat.
    Und erst nach Jahren wird sich zeigen, ob man es geschafft hat, sich vorbeizuschmuggeln an all den benutzten Kondomen und den namenlosen Männern; dem Stöhnen, dem Seufzen und den langen, langen Nächten.
    Ich habe Chase davon erzählt, wie ich aus- und um- und abgestiegen bin. Und wie oft ich zwischendurch auf eine Waage gestiegen bin. Dann bin ich ohnmächtig geworden, und als ich meine Augen wieder aufgeklappt habe, lag Chase neben mir auf dem Fußboden und hat den gleichen Punkt an der Decke angestarrt wie ich.
    Da habe ich meinen Mund geöffnet und alles erzählt.
    Alles.
    Von Ana. Von Mia.
    Von den fehlenden Tagen.
    Von meiner Schande im Ganzen.
    Und Chase hat mir zugehört, ohne zu blinzeln. Er hat meinem Wortvermögen einen schweigenden Wert zugesprochen. Und dann hat er unseren Zwischenraum in neuen Farben gestrichen und ein paar leere Bilderrahmen aufgehängt, damit ich Platz für meine haltlosen Erinnerungen habe.
    Es ist schön, wenn man die Chance auf Verständnis hat, auch wenn die Art und Weise, auf die man sich selbst Ausdruck verleiht, so grotesk ist wie meine – wenn man seinen Seelenschmerz auf leeren Tellern zur Schau stellt und ein schwarzes Strapsband um seinen verkauften Körper trägt.
    Und wenn Ausstieg doch das richtige
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