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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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worden war.
    Aber vielleicht.
    Wird es eines Tages schöner.
     
    Ich trinke meinen Kaffee aus und werfe die übrig gebliebene Hälfte von dem Käsebaguette in einen Mülleimer, dann winke ich den beiden Königen auf ihrer Burg zu und freue mich darüber, dass sie zurückwinken. Anschließend spaziere ich über den verlassenen Marktplatz, durch den menschenleeren Park und weiter die Straßen entlang, zurück zu Chase’ Wohnung, um mich wieder neben ihn ins Bett zu legen.
    »Ist es schon spät?«, fragt Chase verschlafen und zieht mich unter die Bettdecke. »Warum bist du denn angezogen?«
    Ich antworte ihm nicht darauf und kuschele mich stattdessen schweigend an seinen vertrauten Körper.
    Es ist leer in dem großen Bett
    Ohne Ana und Mia.
    Aber es gibt etwas Wichtigeres als Seelenschmerz.
    Etwas Besseres als Verlorengehen.
     
    Am Nachmittag sitze ich mit Chase im Café am Lietzensee und erinnere mich an Caitlin.
    »Den letzten Tag kann man niemals gestern nennen«, hat sie einmal zu mir gesagt, damals, vor langer Zeit, als sie noch am Leben war. »Aber da der letzte Tag meistens nicht weiß, dass er der letzte ist, ist das eigentlich nur ein unwichtiges Detail. Nicht wahr? Kein Tag weiß vorher, wie er enden wird.«
    Ich habe genickt, und dann sind wir zusammen auf den Teufelsberg geklettert und haben unsere bunten Drachen in den Himmel fliegen lassen.
    »Was hältst du von einem Selbstversuch: auf der Suche nach sich selbst alles zu versuchen«, höre ich Chase wie von weit her sagen, »Lilly? Lilly! Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Ich verbreite hier Weisheiten, und du bist schon wieder am Herumträumen! Hey, sieh mal da drüben – die hässlichen grauen Federviecher sind endlich aufgestanden!«
    Und da reiße ich mich los von Caitlin und ziehe meine Gedanken zurück in das Café und an den gedeckten Tisch. Neben uns auf dem See schwimmt die berühmte Schwanenfamilie von Charlottenburg. Fünf kleine graue Schwäne und zwei große weiße. Jeden Tag drehen sie ihre Runden, zwischendurch fressen sie an der Uferböschung Brot, das Kinder aus zerknüllten braunen Papiertüten hervorzaubern. Manchmal watscheln sie auf den Wiesen herum und quaken die Enten an, und manchmal quaken die Enten zurück. Im Winter schließlich verlassen die Schwäne uns oder verstecken sich im Schilf. Aber zwei von ihnen kommen wieder, jedes Jahr aufs Neue. Und wenn die kleinen grauen Nachwuchs-Schwäne zum ersten Mal auf Seeerkundungstour gehen, dann blühen auch bald die weißen Holunderbüsche, und die Sommerzeit beginnt.
    Ich löse mein Haarband und spüre, wie meine Haare sanft um meine Schultern fallen, bis hin zu meinen winzigen Brüsten. Chase lächelt und versenkt einen Zuckerwürfel in meinem schwarzen Tee.
    »Warum magst du mich eigentlich?«, frage ich ihn plötzlich.
    Es ist die letzte laut ausgesprochene Frage, die ich in meinem Endspiel stelle.
    Und Chase. Chase stellt bedächtig sein Glas vor sich ab, legt den Kopf schief und mustert mich einen Moment lang nachdenklich. Sein Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten, er liegt irgendwo zwischen sanftmütig, aufgebracht, begehrend, sehnsüchtig und Fotoshooting.
    »Lilly«, sagt Chase schließlich, und seine Stimme ist so rauh wie das dumpfe Dröhnen in meinen beengten Räumen. »Lilly, manchmal machst du mich wahnsinnig! Ich hasse es, dass du diesen Job machst – ich bin rasend vor Eifersucht und schlafgestört vor Sorge um dich. Du bist viel zu intelligent und einzigartig, um dich so dermaßen zu betrügen. Verdammte Scheiße: Es ist ein wunderschöner Frühlingstag! Meinst du denn nicht, es ist langsam an der Zeit, dass du lernst, deinen Schaden auf eine bessere Art und Weise zu kompensieren?! Zwei Jahre. Zwei Jahre sind genug! Lilly – vom ersten Tag an war ich fasziniert von dir; du hast im Sand gebuddelt, als müsstest du dir beweisen, dass man sich nicht so einfach bis nach China durchgraben kann. Und kein anderer Mensch auf der Welt kann seinen Seelenschmerz mit so viel Anmut und Ausdruck tragen wie du. Weniger Opfer kann man wahrscheinlich gar nicht sein. Verstehst du das denn nicht? Es ist vorbei, Lilly. Vorbei! Und ja: Ich liebe dich. Dich und die Worte, mit denen du um dich wirfst, auch wenn keiner da ist, der schnell und standfest genug ist, um sie aufzufangen.«
    Chase’ Augen berühren meine. Mühelos.
    Und ich.
    Ich bin still.
    Ich bin sprachlos.
    Ich bin glücklich.
    »Chase«, sage ich schließlich leise, »Chase.«
    Und dann sage ich das, was ich
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