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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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vorstellen.
    »Die kann ihr auch jeder andere erzählen«, sagt er dann. »Außerdem kann niemand beweisen, dass ich unrecht habe. Denn die Glühwürmchen sind verzauberte Glühwürmchen. Sie lösen sich sofort in Luft auf, wenn man die Glühbirne zerschlägt, dann verschwinden sie, als wären sie nie da gewesen.«
    »Und was, bitte schön, machen Somalis in Usbekistan auf Wohngemeinschafts-Hausbooten?«, will Lady wissen, während sie schwungvoll ihre zwei Zigaretten auf dem Fensterbrett ausdrückt.
    »Na, die Glühwürmchen fangen!«, ruft Hailie fröhlich.
    Chase nickt zustimmend, wendet den Blick von seiner Küchenlampe und sagt an Lady gerichtet: »Siehst du,
sie
hat es verstanden!«
    Hailie nickt und angelt sich eine Salzstange aus der Packung auf dem Tisch.
    »Erzählst du noch einmal die Geschichte von der Giraffe am Südpol? Die mit den Pinguinen, dem Clubhaus und dem großen Wal?«, fragt sie dann bittend. »Oder die von dem blaugestreiften Alien, der mitten auf dem Schulhof landet und aus Versehen den Schulleiter verschluckt?«
    Aber Chase schüttelt seinen Kopf. »Nein, meine Süße, man darf jede Geschichte nur einmal erzählen! Denn, weißt du, es gibt so viele Geschichten auf dieser Welt, eine abenteuerlicher als die andere – und wo kommen wir denn hin, wenn wir bei ein und derselben hängenbleiben? Heute, meine Prinzessin, erzähle ich dir eine andere Geschichte. Die Geschichte von einem kleinen Mädchen, das genauso lange Prinzessinnen-Haare hatte wie du, und sein Lachen war genauso voller Sterne wie deines. Und dieses kleine Mädchen lebte in einem riesengroßen Schloss an einem noch viel größeren See. Und es wohnte ganz mutterseelenalleine dort, denn sein Vater, ein berühmter Pirat, umsegelte gerade die Weltmeere, und seine Mutter, eine gute Fee, war auf der Suche nach dem ewigen Licht der Güte. In den ersten Jahren war das kleine Mädchen sehr einsam, denn es vermisste seine Eltern, und es fühlte sich verlassen, so ganz allein in dem riesengroßen Schloss. Aber dann, eines schönen Tages, kam ein bunter Vogel zu dem Mädchen geflogen, und in seinem Schnabel trug er ein kleines Päckchen. Kaum hatte das Mädchen seine Hand danach ausgestreckt, da ließ der Vogel es auch schon hineingleiten, und dann breitete er seine schimmernden Flügel aus und flog davon, in den weiten, weiten Himmel. Das Mädchen aber setzte sich auf die Eingangsstufen zum Schlossportal und öffnete neugierig das Päckchen. Zum Vorschein kam ein Buch, eingeschlagen in einen hellblauen Einband, mit nichts als leeren Seiten darin. Verdutzt blätterte das Mädchen durch das blanke Papier, und da fiel auf einmal ein pinkfarbener Zettel heraus.
›Dies ist ein Zauberbuch‹,
stand darauf geschrieben, in einer kaum lesbaren, krakeligen Schrift.
›Jede Geschichte, die Du in dieses Buch schreibst, wird durch die Welt fliegen und anschließend zu Dir zurückkommen, um von einer zauberhaften Reise zu berichten. Du wirst sie alle kennenlernen, die Kobolde, die Hexen, die Flammentänzer und die Hüter der Freiheit. Du brauchst nichts weiter zu tun, als mir ein paar Worte zu schenken.‹
    Da nahm das kleine Mädchen aufgeregt einen Stift in die Hand und begann zu schreiben. Es schrieb von seinem Vater, dem Piraten, der immer die schönsten Schätze mit nach Hause brachte. Und dann schrieb es von seiner Mutter, der anmutigen Fee, mit den goldenen Flügeln. Kaum hatte es die ersten Sätze fertig geschrieben, da begann das hellblaue Buch auch schon zu leuchten, und wie aus dem Nichts ertönte ein Flüstern und Knistern, das immer näher und näher kam. Und von diesem Tag an musste das kleine Mädchen nie wieder einsam oder traurig sein, denn das Zauberbuch hielt sein Versprechen und wisperte Wort um Wort, bis die Stille in dem großen leeren Schloss gefüllt war mit den Geschichten der Welt, an denen das kleine Mädchen von da an teilhaben durfte.«
    Chase verneigt sich. Vor sich selbst. Vor Hailie.
    Und vor dem Leben – das seiner Bühne einen Raum für all die differenzierten Darstellungen bietet.
    »Ist das eine wahre Geschichte?«, will Hailie sofort wissen.
    »Alle Geschichten sind wahr!«, erwidert Chase nachdrücklich und mit überzeugender Stimme. »Aber diese ist ganz besonders wahr. Und wenn du ganz fest daran glaubst, meine kleine Erbse, dann wirst du sie vielleicht auch eines Tages sehen, die Lichter über dem Schloss am See, die Glühwürmchen und die Zaubergestalten!«
    Lady verdreht ihre Augen und schließt seufzend
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