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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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wir bereit sind zu gehen? Denn ihr wollt uns doch sicher nicht wütend erleben … also kein Wort, kein einziges Wort. Habt ihr das verstanden?«
    Kein Wort, kein einziges Wort.
    Keine von uns hat je etwas besser verstanden.
    Ich habe mich umgeblickt, wir waren alle noch nackt. Geschändete Schaufensterpuppen mit starren, bewegungslosen Gesichtern. Ich ließ meinen Blick streifen, über blasse Haut, über violettblaue Haut, über rot verfärbte Haut, über gebrochene Finger, über zerschnittene Oberkörper, über eingebrannte Zeichen.
    Im Gegensatz zu einigen anderen Mädchen hatte ich Glück gehabt.
    Glück.
    Was für ein schönes Wort.
    Was für ein lächerliches Wort im falschen Moment.
    Wir haben die Tabletten, die sie uns gaben, ohne zu zögern geschluckt. Wie willenlose Figuren, zu erwerben in der Abteilung für Freizeitbeschäftigung und Zubehör. Das Gegenteil von Widerstand ist Gegenstand.
    Und ich erinnere mich genau an den letzten Augenblick in dieser Wohnung: Ohnmächtig zu werden war das Gnädigste, was ich je gefühlt habe.
     
    Dann bin ich aufgewacht – zurück in meinem Keller. Ich wäre gerne erleichtert gewesen. Ich hätte mich gerne gefreut. Ich wäre gerne vor Glückseligkeit an einem Lächeln gestorben. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wieder Jungfrau zu sein.
    Aber man bekommt nicht immer das, was man will.
    Also bin ich aufgestanden und die Treppen hinaufgestiegen. Nur um mich im Badezimmer einzuschließen und mir dort mein Floß zusammenzubauen. Ich war zu erschöpft, um meinen Kopf unter die Wasseroberfläche zu drücken und alles zu beenden. Ich hatte keine Kraft mehr, um das Kabel von einem Föhn in die Steckdose zu stecken.
    Kein Wort, kein einziges Wort.
    Nicht einmal Chase durfte die ganze Wahrheit wissen, und auch Lady habe ich nie davon erzählt. Niemandem. Denn die bösen Männer könnten überall lauern, vielleicht sehen und hören sie alles. Perverses Schweigen.
    Ich wurde ein wandelnder Nervenzusammenbruch, ein ewig hungerndes Wesen, ein gespaltenes Etwas, ein zeitloser Zwischenraum ohne Türen und Fenster.
    Ich habe begonnen, meine Erinnerungslücken mit Selbstmordversuchen zu füllen.
    Das ist die Nachspielzeit.
    Die Zeit, in der sich zeigen wird, ob ich noch im Nachhinein an der zugefügten Gewalt scheitere.
    Oder ob ich davonkomme.
    Kein Wort, kein einziges Wort – ja, ich bin die Schande, die ich ertragen habe. Ich bin die Hülle unter den groben Männern. Ich bin die Schuld im Ganzen, weil ich mir keine Unschuld gewähre und schweige.
     
    Drei Jahre später habe ich eines der anderen Mädchen an einer Bushaltestelle wiedergetroffen. Sie kam mir entgegen, eine Flasche Wasser in der einen und eine Tüte mit Weintrauben in der anderen Hand. Im ersten Moment wusste ich nicht, woher sie mir so bekannt vorkam, aber dann haben unsere Augen sich getroffen, und da wusste ich alles wieder. Alles. Jedes Detail.
    Der Bus kam und fuhr ohne uns davon. Wir sahen ihm nach, nur für eine winzige Sekunde, denn es war nicht wichtig. Dann blickte sie zu Boden und ich zum Himmel. Das war leichter, als unseren Augen standzuhalten. Der nächste Bus kam. Und dann der übernächste. Einer nach dem anderen. Ich sah sie alle kommen, ich sah sie alle ohne uns abfahren.
    Dann hat sich das Mädchen mit den Weintrauben auf einmal umgedreht und ist weggelaufen. Einfach so, ohne Abschiedsgruß – zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich habe nicht versucht, sie aufzuhalten oder ihr hinterherzulaufen; ich habe mich nicht einmal getraut, ihr nachzublicken.
    Meine Beine haben sich schwach angefühlt, also habe ich mich auf die Bank an der Bushaltestelle gesetzt und eine humpelnde Taube beobachtet. Sie hatte nur ein Bein, und ich fand, dass sie sehr traurig aussah. Aber dafür konnte sie fliegen.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe und wie lange die Taube vor mir hin und her gehinkt war, aber irgendwann war die Taube weg und das Mädchen wieder da. Dieses Mal kam sie von der anderen Seite, vielleicht ist sie spazieren gewesen oder war auf der Flucht. Wie ich. Die Flasche Wasser hatte sie immer noch in ihrer Hand und auch die Weintrauben. Zuerst dachte ich, sie würde einfach an mir vorbeigehen oder in den nächsten Bus steigen. Aber sie hat sich neben mich gesetzt, direkt neben mich; nur einen kleinen Platz für die Tüte mit den Weintrauben hat sie gelassen.
    Ich hatte vorher noch nie einen ganzen Tag auf einer Bushaltestellenbank verbracht, und irgendwie war mir bewusst,
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