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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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Sehnsucht kommt. Und unsere Seelen in unserem Körper halten können wir auch nicht – aber hungern, das können wir!
    Also tun wir es.
    Denn wenn wir es schaffen, jeden noch so unwichtigen Teil von uns zu peinigen, wenn wir uns all das antun, was wir gelernt haben zu ertragen und noch mehr, dann dürfen wir sicher sein, dass uns niemand sonst etwas anhaben kann, dann wissen wir genau, dass wir jede Einsamkeit ertragen können, genauso wie jede Gewalt. Wir könnten einen Raum voll mit begierigen Männern betreten, ohne ein einziges Mal zu zögern. Wir könnten uns ausziehen, ohne ein winziges Mal zu blinzeln. Wir könnten splitterfasernackt durch die Straßen spazieren, ohne gesehen zu werden. Denn wir haben die Kontrolle über unseren Körper. Nur wir.
    Warum wir verhungern.
    Wir. Diese seltsamen Mädchen.
    Jede von uns hat einen Grund, sich Ana zu nennen. Kein Mädchen wird magersüchtig, weil es so viel Spaß macht, dünn zu sein. Kein Mädchen schlitzt sich die Arme auf, weil es im vorherigen Leben ein Zebra war und so gerne seine Streifen zurückhätte. Genauso wenig, wie sich ein Mädchen Felia nennt, ihre Kleidung ablegt und ihren Körper verkauft, aus Freude an dem guten Geschäft.
    Ich weiß nicht, was andere Mädchen dazu bringt, lieber Anas Namen zu tragen als den eigenen. Aber ich weiß, warum ich es tue: weil die Wahrheit, einmal ausgesprochen, sich nicht widerrufen lässt.
    Deshalb habe ich gelogen. Ganz am Anfang, als ich von dem
fehlenden Tag
geschrieben habe. Nicht weil ich lügen wollte, sondern einfach nur, weil mein müder Kopf mir hin und wieder Streiche spielt und ich bei all den Sachen, die ich verdrängt habe, manchmal gar nicht mehr weiß, was die Wahrheit ist. Es ist nicht einfach, über sich selbst zu schreiben, wenn die Erinnerungen unsicher und verschwommen durch die Gehirngänge streunen, auf der Suche nach einem Platz, an dem sie endlich zur Ruhe kommen können. Es ist schwer, die Wirklichkeit zu beschreiben, wenn man sie selbst nicht erkennt. Dabei würde ich sie so gerne finden, die richtigen Worte, so dass ich sie umformen könnte zu einem fließenden Text, der bezaubert, berührt und sehen kann, auch wenn er mit geschlossenen Augen geschrieben wird, oder vielleicht gar nicht zu Papier findet und nur flüsternd durch meine Räume hallt, die so erschreckend eng sind, wenn ich aufhöre zu versuchen.
    Ich habe schreckliche Angst davor, dass eines Tages jemand auf mich zukommt und sagt: »Ich weiß alles über dich. Denn ich habe deine Geschichte gelesen. Du bist für mich wie ein offenes Buch.«
    Denn wenn ich in ein Buch passen würde, dann wäre ich ein beschriebenes Blatt Papier. Irgendein Lektor hätte alle meine Fehler beseitigt und die schlechten Passagen gekürzt. Ich wäre redigiert, konzipiert und formatiert.
    Aber das bin ich nicht.
    Ich bin ein Wortbruchstück ohne Zeilenabstand.
    Und eine ganze Ansammlung von meinen Gehirnzellen ist seit Jahren damit beschäftigt, einen Tag aus meinem Leben zu streichen. Aber da dieser eine Tag 52  Stunden lang war, scheitere ich an der verformten Zeitrechnung.
    Der fehlende Tag
 – er war nicht einfach nur ein Tag. Und ich bin nicht einfach so in dem Keller wieder aufgewacht. Die Zeit dazwischen war es, die mich dazu gebracht hat, einen Namen wie Felia zu tragen. Und es war der drängende Wunsch nach einer besseren Realität, der mich dazu gebracht hat, alles zu verleugnen.
    Ein weniger verschwendetes Mädchen hätte vielleicht sofort seinen Mund geöffnet und berichtet, es hätte den Mut gehabt, um zu sagen: Als ich wieder aufgewacht bin, da hatte er mich längst fortgebracht. Mitten am Tag, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Meine Augen brannten, und die verschwommenen Bilder meiner Erinnerungen waren unnachgiebige Fehler in meinem Dasein.
    Ein Mann hat mir seine Waffe an den Kopf gehalten und mit dem Abzug gespielt. Das Geräusch war ungeduldig, drängend; es klang dröhnend wie Donnergrollen, aber nicht ganz so fern. Dann hat der Mann mir mein Handy in die Hand gedrückt und gesagt, was ich zu tun hätte. Es war simpel: Ich sollte die Nummer meines Vaters wählen. Das war klug von ihm. Denn Mütter merken es schneller, wenn ihre Töchter sie belügen.
    Dann hat der Mann gesagt: »Ein falsches Wort. Und du wirst diesen Raum nicht mehr lebend verlassen.«
    Meine Schläfen haben schmerzend gepocht, sie hämmerten gegen meinen tauben Verstand, als wollten sie mir irgendetwas erklären. Und auf einmal war ich ein anderes Mädchen, ich
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