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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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vergaß für den Moment, dass ich selbstmordgierig war, todessüchtig, auf einem steilen Abgrund balancierend. Ich hatte die einmalige Chance, ein falsches Wort zu sagen und mir meinen Grabstein zu sichern, aber alles, was ich wollte, war überleben. Im Nachhinein habe ich mich mindestens sechshundertfünfundsiebzig Mal gefragt: Warum? Warum?! WARUM ?!
    Dann habe ich aufgehört zu zählen.
    Und weil ich schon immer gut darin war, das Richtige zu sagen, das, was andere von mir hören wollten, habe ich einfach alles genau so gemacht, wie der Mann es von mir verlangt hatte.
    »Papi, kann ich das Wochenende bei Julia verbringen?«, habe ich gefragt. »Ich bin auch am Sonntagabend nicht so spät zu Hause.«
    Meine Stimme war piepsig. Ich muss geklungen haben wie ein Lamm auf der Schlachtbank. Ich hätte Biene Maja oder einen von der Gummibärenbande synchronisieren können. Ich hätte eine Auszeichnung dafür bekommen. Aber mein Vater hat keine Ahnung von Biene Maja, geschweige denn von irgendwelchen Mitgliedern der Gummibärenbande.
    Also hat er geantwortet: »Klar, mach nur.«
    Und im Hintergrund habe ich ihn auf seiner Computertastatur herumhacken gehört.
    »Danke«, habe ich geflüstert, »danke, bis Sonntag.«
    Es war Freitag. Freitag.
    Erst Freitag.
    Drei Tage.
    »Viel Spaß«, hat mein Vater noch hinzugefügt und aufgelegt.
    Mit kreischender Seele habe ich das nutzlos piepsende Handy angestarrt. Ich war vögelfrei. Und mich zu entführen war mit Sicherheit ein Kinderspiel gewesen, immerhin habe ich schon mit sechs Jahren verlernt, um Hilfe zu schreien.
    Kaltes Erwachen.
    Für einen Moment hatte ich dummes Ding doch tatsächlich geglaubt, dass es meinem Vater auffallen müsste, dass ich ihn sonst nie
Papi
nenne, oder dass er zumindest wissen würde, dass ich gar keine Freundin namens
Julia
habe. In Filmen klappt so etwas immer, da reicht eine falsch gesetzte Sprechpause, ein kaum hörbares Räuspern, ein unpassendes Wort, und schon kommt ein SWAT -Team oder Jack Bauer durch die Tür gestürmt.
    Die Wirklichkeit aber war voll mit verschwitzten Männern.
    Eine fremde Wohnung, zugezogene Vorhänge, schmutziges Licht, Bierflaschen, Zigarettenqualm, dumpfe Musik, stickige Räume. Meine Luft würde nie wieder sauber schmecken, das wusste ich im ersten Augenblick. Sterben klang besser als alles andere. Also die Frage: »Weiterleben … wozu?«
    Vielleicht, weil niemand so sterben will.
    Vielleicht, weil Entkommen die größte Herausforderung des Lebens ist.
     
    Vier andere Mädchen waren dort mit mir in der schmutzigen Wohnung. Einige haben geweint und gefleht – sie wurden am härtesten von den Männern geschlagen. Es macht einen Unterschied, ob man fünfmal angespuckt wird oder fünfzigmal; ob man zehnmal getreten wird oder zwanzigmal.
    Und da habe ich verstanden: Männer mögen weinende Mädchen, ihre Blicke werden glasig vor Begierde und berauscht von dem Machtgefühl. Männer mögen flehende Mädchen, denn so macht es mehr Spaß, das feuchte Blut zu betrachten und das zärtliche Kitzeln der Gewalt auszukosten.
    Ein einfaches Gesetz: Stillhalten, keinen Laut von sich geben, die Augen schließen, nichts mehr empfinden, alles ausblenden. Jeder Vollidiot kann sich das merken. Und man braucht keinen überdurchschnittlichen IQ oder einen Doktortitel in Verhaltenspsychologie, um sich daran zu halten. Ein bisschen Glück wäre von Nutzen.
    Aber es geht auch ohne.
    Gesetzwidrigkeiten werden auf der Haut eingebrannt oder in die Seele geschnitten. Wie schnell wir uns fügen, um nicht zu zerfallen. Wie bedingungslos wir gehorchen, wenn wir kapiert haben, dass auch der Widerstand nicht widersteht, wenn er die Chance bekommt, zu fliehen.
    Und dann steht man alleine da.
    »Wenn ihr gute Mädchen seid, dann dürft ihr am Sonntag alle wieder nach Hause gehen … na, wie klingt das?« Das hat einer der Männer gesagt, während seine Freunde uns zu Boden gepresst haben und mit Rasierklingen Kreuze zwischen unsere Beine geritzt haben.
    Drei Tage.
    Zwei Nächte.
    Zeit ist niemals gnädig. Zeit kennt keine Ausnahmen. Sie verhandelt nicht, sie lässt sich nicht bestechen, sie gibt niemals nach. Auch wenn man noch so sehr hofft und bittet.
    Ich wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war. Der Geschmack von Sperma und Erbrochenem beherrschte meinen wunden Hals, und der Geruch von verschwitzten Männern brannte in meinem Atem. Das Mädchen mit den kleinsten Brüsten lag neben mir und weinte leise. Ihr zitternder Oberkörper war mit
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