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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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habe ihnen über ihre verschwitzten Gesichter gestrichen und versucht nachzuempfinden, wie es sein muss, wenn man den Punkt erreicht, an dem man sich fallen lassen kann, anstatt zu einem Eisblock zu erstarren und sich selbst auszublenden.
    Ich habe gestöhnt, gespielt und an einer Stange getanzt. Ich habe eine ganze Welt kennengelernt, gehüllt in rote Geheimnisse. Und ich habe durch den Türspalt hindurch beobachtet, was Barbie mit ihren SM -Raum-Kunden angestellt hat. Anschließend fand ich meine eigene Sexualität einen Moment lang ziemlich normal.
    Obwohl sie es ganz bestimmt nicht ist.
    Aber auch das werde ich mir irgendwann verzeihen.
    Genau wie die zersplitterte Unschuld, die ich zu meiner nackten Schuld umgeschrieben habe.
     
    Es wird Herbst. Ein weiterer Herbst als leichtes Mädchen. Ich fühle mich freier als sonst.
    Freier.
Ich hoffe, da besteht kein Zusammenhang.
    Ja. Wortspiele sind die verdrehte Darbietung einer suchenden Sprache. Einer Sprache, die ihrem eigenen Wortschatz Fallgruben stellt, um im Zweifelsfall jeden Zufall zum Fallbeispiel machen zu können.
    Ich falle auch. In meine selbstgegrabenen Lücken. Ich trage Größe XXS und 32 , und manchmal hängt selbst das noch an mir herunter wie an einem Kleiderständer, aber ich ziehe trotzdem meinen Bauch ein, auch wenn kein Bauch mehr da ist, und ich halte trotzdem die Luft an, auch wenn ich sowieso kaum atmen kann. Mein Herz tuckert unruhig wie ein Dampfer kurz vor dem Absaufen. Die Besatzung, in diesem Fall meine Hirnzellen, sind längst über Bord gegangen, und alles, was noch da ist, lauscht hingebungsvoll dem Ächzen und Krachen des Dampfrades.
     
    Es wird Winter. Ein weiterer Winter als leichtsinniges Mädchen. Ich fühle mich wie ein Fußballfeld.
    Männer wälzen sich auf mir herum und versuchen, zum Abschuss zu kommen.
    Passen eigentlich all die Männer, die ich hatte, gemeinsam auf einen Fußballplatz?
    Vielleicht, wenn man ein bisschen quetscht und Ahnung von effizienter Raumverteilung hat. Aber ich habe keine Ahnung, wie groß ein Fußballplatz ist. Geschweige denn, wie viel Platz das Wesen eines Mannes braucht.
    Meine Gedanken sind nach wie vor untragbar.
    Aber ich will nicht mehr das gebrochene Mädchen sein, das Mädchen, das sich selbst in Stücke zerteilt, um Gestalt anzunehmen. Denn die Chancen stehen ziemlich gut, dass ich es schaffe, durch Treppenhäuser, über Straßen, an Kellern vorbei und zwischen Männern hindurchzuschlüpfen, ohne ein weiteres Mal vergewaltigt zu werden. Die meisten Menschen stürzen nur einmal mit dem Flugzeug ab.
    Und dann nie wieder.
    Außerdem habe ich einen Chase an meiner Seite, und ich möchte bei ihm sein.
    Eine Sekunde lang. Einen ganzen Moment.
    Für die Dauer eines Tages. Bis zum Morgengrauen.
    Oder für immer.

3
    E s gibt einen Grund, warum Mädchen wie ich schweigen. Denn die Angst vor dem herben Schmerz, falls man uns keinen Glauben schenkt, ist größer als die Angst vor der Einsamkeit. Geschlossene Lippen verraten vielleicht unsere unbenannten Geheimnisse, aber solange wir keinen Kommentar dazu abgeben, sind wir in Sicherheit.
    Mädchen wie ich. Lautlos lächelnde Gestalten, unbewegte Mienen, zerkratzte Arme, undurchschaubare Augen, fliehende Erinnerungen, gezeichnete Seelen.
    Unsere schweigenden Hüllen stehen verloren in der Gegend herum. Wir schämen uns um die Wette, wir hungern um unseren Verstand, wir weinen, nur um auszutesten, wie lange es dauert, eine Kontaktlinse ohne Hilfe der Hände zu entfernen. Wir haben die besten Ausreden eines ganzen Jahrhunderts parat. Wir wissen genau, in welcher Tonlage und Lautstärke wir lachen müssen, um nicht aufzufallen. Wir denken ernsthaft darüber nach, ob Gott ein sexsüchtiger Perverser sein könnte und ob deshalb alle weiblichen Engel seine nackten Sklaven sind. Wir winden uns vor Isolation, vor der Sucht nach Nähe und Zärtlichkeit. Aber wir würden niemals jemanden in unsere abgeriegelten Räume lassen, wir würden niemals einer Berührung Schönheit zusprechen.
    Warum wir verhungern. Warum nur, warum?!
    Es gibt eine simple Antwort auf diese Frage: weil wir es können.
    Ja: weil wir es können.
    Die dümmste Antwort, die man geben kann. Aber sie stimmt. Denn wir haben keine Ahnung davon, wie man liebt oder wie man geliebt wird. Wir können nicht gut zu uns selbst sein, und wir können es nicht zulassen, dass jemand anders gut zu uns ist. Wir können nicht ausdrücken, was uns wirklich bewegt, wir können nicht erklären, woher die große
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