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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Jonasklage
     
    An die Dunkelheit und die Enge hatte er sich nie gewöhnen können. Wenn er sich all das Wasser um seine Kajüte herum vorstellte – über die nötige Phantasie verfügte er allemal –, konnte ihm immer noch komisch werden. Ihm wurde auf der Festung leicht komisch, und das seit anderthalb Jahren schon. Er hatte eine seltsame Erfahrung machen dürfen: dass man seekrank werden konnte auf einem Schiff, das nicht schaukelte. So jedenfalls erklärte er sich diese regelmäßig wiederkehrende Stimmung: als Seekrankheit. Er sprach nicht darüber. Er war von sich aus nicht sehr gesprächig und außerdem hatte er sehr schnell herausgefunden, dass Vertrauensseligkeit auf der Festung nicht gern gesehen war. Ganz im Gegenteil. Die Festung kultivierte die Paranoia: Überwacht wurde hier alles, geschätzt wurde so gut wie nichts. Sicherheitsgründe. Manchmal dachte er, dass der Teufel seine Maßnahmen vor allem mit Sicherheitsgründen rechtfertigte. Und in dunklen und engen Nächten wie diesen nahm seine eigene Paranoia überhand. Die Festung kam ihm dann wie ein Gemisch aus U-Boot und Gefängnis vor, und im Grunde war sie beides. Wenn er in Nächten wie diesen wach lag, dann machte der Bau Geräusche, die ihm gleichzeitig unter seinen Magen griffen und die Kehle zudrückten. Unbestimmte, fast subakustische Geräusche waren das, die er nie hätte beschreiben können und von denen er nicht wusste, woher sie kamen. Seine Angstbereitschaft ordnete sie aber jederzeit potentiell tödlichen Entwicklungen zu: unbemerkten Lecks unter der Wasserlinie, einem unvermuteten, spontanen Nachgeben des Stahls und Betons über seinem Kopf dem plötzlichen Reißen der armdicken Stahlkabel, die die ganze Struktur am Boden der Nordsee festhielten. Nichts davon war wahrscheinlich. Alles erschien ihm zwingend – in Nächten wie diesen. Das konnte doch nicht gut gehen!, zischte die Paranoia ihm zu, hab ich es dir nicht gesagt! Und sie zischte ihm damit jede Hoffnung auf Schlaf aus dem Leib. Nach anderthalb Jahren auf der Festung wusste er: Eine Nacht wie diese verhieß für den nächsten Tag viel Coffein, Muskelflimmern und Kopfweh. Gewissermaßen die zweite Stufe seiner speziellen Form der Seekrankheit. Dunkle und enge Nächte wie diese, in denen er sich fühlte wie Jonas im Bauch des Walfischs. Dass sich der Vergleich mit der biblischen Figur immer noch so bereitwillig meldete, ärgerte ihn. Er war ausgesprochen antireligiös eingestellt. Aber auch das half ihm in Nächten wie diesen wenig.
     

Kopfweh
    Zuerst fiel Kramer auf, dass kaum Blut zu sehen war. Er hatte eine Riesensauerei erwartet, aber bis auf ein paar kleine Tropfen und Schlieren auf dem abgewetzten Linoleumboden war da nichts. Er stand im Hinterzimmer des Jugendclubs, die Mütze in der Hand, und suchte nach Blut, nach dem Offensichtlichen, nach den Spuren des Ereignisses, aber die Ausbeute war mager. In seiner Zeit als Polizist hatte er schon einige Tatorte gesehen und über die Jahre eine bestimmte Haltung dazu entwickelt: Je schlimmer es aussah, desto leichter würde seine Arbeit sein. Jemand, der bei der Ermordung eines Menschen eine Riesensauerei anrichtete, war leichter zu erwischen, denn er hatte sich nicht unter Kontrolle. Mit Leuten, die sich beherrschen konnten, war es schon schwieriger. Dieser Tatort hier gefiel Kramer auf den ersten Blick schon überhaupt nicht. Viel zu sauber.
    Jemand hatte die Leiche mit einem geblümten Wachstischtuch bedeckt. Einige Leute standen um sie herum, als seien sie dazu verpflichtet. Im Gegenlicht des einzigen Fensters erkannte er Pasulke, einen Vopo, der nach ABV aussah, und einen SMH-Arzt. Am geöffneten Fenster selbst lungerten zwei Typen in Weiß herum, die ebenfalls nach SMH aussahen. Auf dem Boden stand eine Tragbahre. Kramer hatte den Barkas vor der Tür stehen sehen. Sie rauchten. Niemand brauchte sie noch, aber sie trauten sich nicht einfach wegzugehen, genauso wenig wie der Arzt, ihr Vorgesetzter.
    Er wollte gerade auf die Gruppe zutreten, da zwitscherte plötzlich eine der Computerspielkonsolen wie ein Vogel. Oder war es ein Flipperautomat? Kramer drehte sich um. Eine der Konsolen. Er konnte einige bunte Männchen erkennen, die über den Bildschirm hüpften und rannten. Am Münzeinwurf die typischen Kratzspuren der Spieler, denen der Automat die Münzen wieder in die Hand gespuckt hatte. Über dem Gerät hing ein Plakat: Ein gut gelaunter Jugendlicher im FDJ-Hemd präsentierte dem Betrachter einen bunten Blumenstrauß.
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