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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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die Stirn. Katharina Abusch mochte sehr talentiert sein. Offensichtlich hatte sie aber auch gute Freunde in der oberen Kulturbürokratie. Sicher, Republikflucht war heute nicht einmal mehr ein Straftatbestand (vor allem deswegen, weil sie nicht mehr vorkam), aber Kramer wusste, dass es überall im Staat eine Menge Traditionalisten gab, die ausgesprochen nachtragend sein konnten. Frau Abusch konnten sie anscheinend nichts anhaben. DORA II lieferte ihm auch Filmaufnahmen von einem ihrer Auftritte. Kramer fielen ihre kraftvollen Hände auf. Sie spielte Rachmaninoff. Der Klang war ausgezeichnet. Irgendjemand würde ihr erklären müssen, dass ihr einziges Kind tot war. Er würde Pasulke schicken. Zu Bernhard Abusch war noch seine Doktorarbeit im Volltext verfügbar, aber den aktuellen Aufenthalt des Physikers kannte DORA nicht.
    AV: Die Spurensicherung war immer noch nicht fertig. Im Augenblick forschten sie an den Spielkonsolen und Flippern nach Fingerabdrücken. Kramer klickte das Fenster weg und öffnete Michaels Lebenslauf. Der war Durchschnitt: Kindergarten, POS, EOS, Jungpioniere, FDJ, alles wie üblich. Ein Eintrag über Michaels Mitarbeit in der örtlichen Station Junger Techniker. Als letzten Eintrag in seinem Lebenslauf hatte Schumacher seinen Todestag vermerkt: heute. Das irritierte Kramer, der manchmal ein Haarspalter sein konnte, denn es war nicht sicher, dass Michael auch wirklich heute gestorben war. Andererseits gab es strenge Richtlinien im Umgang mit DORA, die dazu aufforderten, den Tod eines Erfassten sofort einzutragen. Peinlicherweise war es schon zu Blitzdurchsuchungen bei längst Verstorbenen gekommen, und so was schadete dem Ansehen der Polizei.
    Kramer lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er sehnte sich nach einem Kaffee, aber die Kaffeemaschine stand im Gruppenbüro, und er wollte jetzt niemanden sehen.
    Da klopfte es an der Tür. Kramer rief missmutig: »Reinkommen!«
    Es war Lobedanz höchstpersönlich.
     
    Der Major der Kriminalpolizei Achim Lobedanz machte so was normalerweise nicht. Er ging seine Untergebenen normalerweise nicht in deren Büros besuchen, sondern rief sie zu sich. Deshalb war Kramer auch tunlichst alarmiert, als sein Vorgesetzter völlig ohne Anmeldung in seinem Büro stand. Er setzte sich auf und sagte: »Achim.«
    »Rüdiger«, gab Lobedanz ernst zurück. Mit seiner Glatze und dem grauen Schnurrbart sah er jetzt ein bisschen wie ein trauriger und besorgter Seehund aus. Seine Krawatte saß nicht richtig.
    »Was gibt's?«
    »Die Normannenstraße ruft.«
    »Die Normannenstraße? Wollen die denn?«
    Ein weitläufiger Gebäudekomplex in der Normannenstraße war der Hauptsitz des MfS. Stasi.
    »Weiß ich nicht. Auf ungeklärte Weise scheinen sie von dem Abusch-Fall Kenntnis erhalten zu haben. Und jetzt möchten sie sich gern mit dir darüber unterhalten.«
    Kramer sah das schöne Gesicht Akkermanns vor sich. Ich bringe ihn um, dachte er.
    »Unterhalten? Gut. Ich fahr heut Mittag mal rüber.«
    »Nee, die haben's richtig eilig. Der Wagen steht unten.«
    Kramer wurde komisch zumute. »Der Wagen steht unten? Ich hab noch nix gegessen heute!«
    Das war nun wirklich ein sonderbarer, aus der Not geborener und dadurch reichlich infantil wirkender Einwand. Fand Kramer selbst, nachdem er ihn ausgesprochen hatte.
    »Vielleicht haben die Normannen ja Stullen. Möglicherweise sogar Kaffeemaschinen. Sei nett zu ihnen. Ich will keinen Ärger.«
    Sollte heißen: Wenn sie den Fall wollen, gib ihn ab. Danke sehr, Genosse Major.
    »Na dann«, sagte Kramer.
    »Na dann«, sagte Lobedanz, drehte sich um und ging hinaus.
    Kramer packte seine Jacke und ließ die Bürotür hinter sich ins Schloss fallen. Seine drei Untergebenen wirkten leicht verstört. Gerade eben hatten sie noch Lobedanz hinterhergesehen wie einer Erscheinung, die sich wieder verflüchtigt hatte.
    »Kleiner Zwischenfall am Rande. Hab einen Stasi-Termin, von dem ich bis vorhin noch nichts wusste.«
    Pasulke gab sich Mühe wie jemand auszusehen, der es ja gleich geahnt hatte. »Stasi?«, fragte er. »Wollen die denn?«
    »Frag mich nachher.«
    Pasulke setzte eine dramatische Miene auf und intonierte mit Grabesstimme: »Wenn du in zwei Stunden noch nicht zurück bist, compañero, holen wir dich raus.«
    »Sehr witzig. Ich muss los. Du sagst der Mutter Bescheid.«
    »Welcher Mutter?«
    »Frag nicht so blöd. Michael Abuschs Mutter.«
    »Ich? Was?«, protestierte Pasulke, aber bevor er die Gründe aufzählen konnte, warum gerade er für
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