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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Partei immer Recht behalten können. Viele wären lieber ihr eigener Chef gewesen, in einer eigenen Werkstatt, statt Weisungen der PGH zu befolgen. Die Bauern beklagten die mangelnde Bindung an die Scholle, wenn sie ihnen nicht selbst gehörte. Manche hätten an einer schönen Börse mit richtigem Aktienhandel und allen Schikanen Spaß gehabt.
    Die beiden waren sich einig: Eine verschwindend kleine Minderheit wollte einen Sozialismus für Menschen, nicht für Untertanen, und einer großen Mehrheit war die DDR, so wie sie war, nicht gemütlich und bunt genug. Das hatten Kramer und Pasulke, die eigentlich eher der ersten Fraktion angehörten, auch damals schon begriffen. Das Leben war nicht schön und wurde auch nicht schöner für die allermeisten, und es fühlte sich einfach nicht so an, als könne sich das jemals ändern. Das war der Punkt.
    Ganz schlecht sah es aus – so die wiederkehrende Erinnerung der beiden –, als Gorbatschow in der Sowjetunion an die Macht kam und den Sozialismus weich spülen wollte, mit freundlicher Unterstützung des Westens, der ihn gerne so weich gespült hätte, dass nichts mehr von ihm übrig blieb. Es begab sich, dass der KPdSU Fehler vorgehalten wurden in Magazinen, die in deutscher Sprache in der DDR erhältlich waren (so z.B. im Sputnik). Das fand die Führung der DDR unerträglich, die nämlich besser als die KPdSU selbst wusste, dass die KPdSU niemals Fehler begangen hatte. Den Sputnik gab es 1987 dann plötzlich nicht mehr, und während neue Witze kursierten, die für die nahe Zukunft den Bau einer zweiten Mauer, nämlich nach Osten hin, vorhersagten, vertraute die Führung der DDR eisern auf Führung.
    Wenn Kramer nüchtern an jene Zeit zurückdachte, stellte er sich immer eine Galeere vor, deren Kapitän der Mannschaft an Deck seine neue Peitschensammlung vorführen lässt, während unter der Wasserlinie die Planken nachgeben. Die Führung dachte: Wir kriegen das schon hin. Die Mannschaft dachte: Leckt uns doch am Arsch. Der Westen dachte: Ihr seid reif, und freute sich schon auf das Verteilen der Konkursmasse. Und dann kam die Wende.
     
    Wer sich an diesem Morgen des 3. April 2000 neben Kramer und den Wachsoldaten gesetzt hätte, hätte viele positive Eindrücke gewinnen können. Die Häuser in den Straßen waren größtenteils renoviert und sauber, und zwar eher noch renovierter und sauberer als in Westberlin vor der großen Krise. Alles war sachlich gehalten, die Werbung zahlreicher und moderner als in der DDR vor Müller-Lohmann, aber bei weitem nicht so aufdringlich, wie sie es im Kapitalismus immer gewesen war. Zwischen den verschiedenen Kombinaten und VEBs gab es zwar einen bestimmten Wettbewerb, aber es war nicht lebensnotwendig, ihn zu gewinnen. Was als gesellschaftlich wichtig betrachtet wurde, wurde gestützt, die Energiekosten waren aufgrund des Müller-Lohmann-Verfahrens ohnehin bestenfalls symbolisch zu nennen, und die Rohstoffpreise waren ausgesprochen moderat. Für einen sozialistischen Betriebsleiter (oder eine Betriebsleiterin) war es unter diesen Bedingungen schwierig, einen VEB an die Wand zu wirtschaften: Man musste dazu schlicht und ergreifend völlig verblödet sein – was nicht hieß, dass das nie vorkam.
    Kramer sah an diesem Morgen, was er im ganzen Osten Deutschlands auch gesehen hätte: moderate Anpreisungen von verbesserten Produkten (davon manche noch in der Entwicklungsphase) und Werbeflächen für Traditionserzeugnisse, die die Bevölkerung daran erinnerten, was der Standard war. Die Aussage der Werbung reduzierte sich in den meisten Fällen auf ein einfaches: »Auch noch da!« Dazu politische Parolen: »Dialog im Meinungsstreit – unser Mittel der Wahl im pluralistischen Sozialismus!« Oder: »1. Mai – Feiertag der Arbeiterklasse!« Oder: »Müller-Lohmann – Mit Energie für den Sozialismus!« Alles weitaus dezenter und im Tonfall gemütlicher als früher. Im Westen grassierte mancherorts noch eine regressive BRD-Nostalgie, Werbefriese verschwundener Marken wurden liebevoll gepflegt und gehegt, in manchen Schrebergärten wehte Schwarz-Rot-Gold mit Bundesadler statt mit Hammer und Zirkel. Man sah das nicht gern, verfolgte es aber auch nicht weiter.
    Kramer fuhr mit dem Wachsoldaten die Warschauer Straße entlang. Dies war nicht der Westen, dies war der Osten. Sozusagen der tiefe Osten. Aber die große »Tempo«-Werbetafel an der Warschauer Straße Ecke Frankfurter Allee brachte Kramer dann doch ins Grübeln. Hatte es »Tempo«
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