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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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überhaupt Pflanzen, die auf dieser Welt heimisch waren, oder auf einer anderen, in einer anderen Wirklichkeitsebene, einem Fiebertraum oder einem Opiumrausch vielleicht? –, die sich ein erhitztes Gehirn vorzugaukeln mochte. Sie nahmen fast das ganze Fenster ein, hatten Stämme, die dick wie die Heizungsrohre waren, und ihre ungeheuerlichen Blüten wirkten auf Alfred so, als würde sie ihn angrinsen. Er stieß die Tür auf, lief an der unbesetzten Rezeption vorbei, warf einen kurzen Blick nach rechts, auf die Hinterseite der Pflanzen, die sich allesamt nach dem Licht ausgerichtet hatten, und glaubte eine Bewegung unter ihnen wahrzunehmen – eine Bewegung, die viel zu schnell für Pflanzen war. Er hastete zum Aufzug, war froh, als die Tür sich mit einem schlürfenden Quietschen schloss und ihn die alte Kabine von diesen unerhörten Gebilden forttrug.
     
     
Sie sind da – dort, wo ich es beschrieben habe. Vielleicht sind sie nicht ganz so groß wie in meiner Phantasie.
Doch.
Sie sind so groß. Ich war soeben unten und habe sie mir angesehen, hinter der unbesetzten Rezeption. Ich hätte schwören können, dass sie nicht so gewaltig waren, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe.
Wann war das?
Es ist der erste Morgen des Alfred L. in dem befremdlichen Hotel. Der wievielte Morgen ist es für mich? Ich stelle fest, dass ich es nicht mehr weiß.
Die Feuerlilien haben sich bewegt.
     
     
Alfred ging zurück in den Speisesaal, weil er hoffte, dort jemandem zu begegnen. Er war gern allein, aber in diesem ungeheuren Haus wollte er es nicht sein. Er hatte den Eindruck, dass die Blumen auf den Fensterbänken ihn anschauten, als er den großen Raum mit der eleganten Stuckdecke betrat. Es war kalt hier, kalt und feucht.
Und leer.
Das Frühstücksgeschirr war abgeräumt, und kein Krümel war mehr auf der seltsam fleckengemusterten Tischdecke sowie dem Teppichboden zu sehen, unter dem die Dielen wie in verhaltener Vorfreude knarrten.
Auf einer Fensterbank raschelte es. Alfred erstarrte und schaute dorthin, von wo das Geräusch gekommen war. Die Blumen – Orchideen? – tanzten. Das Grün neben den weißen und roten Blüten, die wie geöffnete Münder wirkten, zuckte wirr. Blütenstempel fuhren wie Zungen auf und ab.
Alfred wagte nicht zu atmen. Alle unausgesprochenen, uneingestandenen Ängste und Befürchtungen des vergangenen Abends, der verräterisch traumlosen Nacht und des nebelverhangenen Morgens schlugen über ihm zusammen und überspülten ihn mit dem süßlichen Seim eines unnennbaren Grauens.
Dann trat eine Gestalt zwischen den Stengeln und den Blumenmündern hervor. Es war die alte Dame, die ihn am vergangenen Abend begrüßt hatte. Sie stand auf der Fensterbank, war beinahe verschmolzen mit den Blüten und den grünen Blättern, die das Muster ihres altmodischen Kleides aufnahmen, war selbst eine Blüte, ein Gleiches zwischen Gleichen, und inmitten ihrer in Auflösung begriffenen Frisur glaubte Alfred einen Blumenschlund und eine Blütenzunge rot und gelb herausleuchten zu sehen.
Dann erst sah er die kleine Trittleiter, die hoch zur Fensterbank führte. Er stieß die Luft aus; in seinen Ohren klang es so zischend und jammernd, wie er es in den Rohren gehört hatte. Viel behender, als er es ihr zugetraut hätte, kletterte die alte Dame über die Leiter auf den Boden.
„Wir ziehen unsere Pflanzen selbst“, sagte sie und lächelte ihn an. „Sie brauchen andauernde Pflege.“ Sie streichelte über ein widerwärtig fett glänzendes, dunkelgrünes Blatt, das wollüstig erschauerte.
„Es ist schlechtes Wetter heute“, sagte Alfred, weil er sonst nichts zu sagen wusste. Er wünschte sich, nicht mit dieser Dame reden zu müssen, es war schlimmer als die Einsamkeit, aber er wollte nicht so unhöflich sein, ohne ein weiteres Wort den Raum zu verlassen.
„Sehr schlechtes Wetter“, bestätigte sie. „Der Nebel wird sich kaum vor dem Nachmittag lichten. Sie sollten nicht hinausgehen, denn in diesem Nebel kann einem alles mögliche zustoßen.“ Sie nahm die Klappleiter, neigte den Kopf ein wenig und ging an ihm vorbei. Als er hörte, wie die Tür hinter ihm geschlossen wurde, atmete er auf.
Er trat an das Fenster heran.
Es war kein Fenster mehr. Früher einmal mochte es eines gewesen sein; der Rahmen war noch da. Doch in ihm befand sich nichts als eine sehr naturalistische Blumentapete.
     
     
Es ist eine dichterische Freiheit. Die alte Dame stand nicht zwischen diesen seltsamen Pflanzen. Aber am einen Tag war dort ein
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