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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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MICHAEL SIEFENER
SPIEGELGLAS
     
- Erzählungen - 
Herausgegeben von Jörg Martin Munsonius
     
     
IMPRESSUM
© der Digitalausgabe 2012 by EDITION BÄRENKLAU/Ein EDITION BÄRENKLAU  E-Book, Herausgegeben von Jörg Martin Munsonius (ViSdP)
www.edition-baerenklau.de    
©, Cover 2012 by Steve Mayer nach einem Motiv von Dante Gabriel Rossetti ( dieser meisterhafte Maler wurde 1828 in London geboren und ist 1882 in Birchington-on-Sea gestorben ) 
Die Website des Illustrators: stevemayer.magix.net  
     
Vertrieb:
Ein CassiopeiaPress E-Book
©, der Digitalausgabe 2012 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress
www.AlfredBekker.de
     
     
     
     
     
Inhalt:
Die Angst und die Stadt
Die Rückkehr
Abendstimmung mit Burgruine
Die Versuchung
Im Schatten
In Stein
Hinter dem Spiegelglas
Hotel Kehrwieder
     
     
     
     
     
Die Angst und die Stadt
     
Es war schon dunkel, als David Thurn auf den Bahnhofsvorplatz trat und die Lichter der nassen Stadt sah. Er spannte seinen Regenschirm auf, ging hinüber zu dem großen, beleuchteten Stadtplan und suchte nach der Straße, in der sein Hotel lag. Es war ein kurzer Weg, aber er war unangenehm genug für David. Die Dunkelheit erschien ihm wie ein Meer aus schwarzen Wellen, die Passanten waren wie Schwärme missgestalteter Fische, und die Autos mit ihren weißen Augen und den chromblitzenden Mäulern waren Haie auf blinder Suche nach Futter.
David mochte keine Städte, er mochte keine Menschen, sie machten ihm Angst. Vorsichtig lugte er unter dem Rand seines grauen Schirms hervor. Er spürte die Blicke der anderen, der Novembermenschen, eingehüllt in ihre dicken Mäntel, über sich die endlosen grauen Baldachine aus Stoff. Zu Hause in seinem kleinen Ort, wo ihn jeder kannte und niemand eine unkalkulierbare Bedrohung für ihn darstellte, konnte er sich freier bewegen, doch in der Fremde und vor allem in fremden Städten war es völlig anders.
Er atmete auf, als er die Hotellobby betrat und den Schirm schließen konnte. Da befiel ihn die Angst, der Portier werde ihm sagen, dass kein Zimmer auf seinen Namen reserviert sei, bedaure, aber man sei ausgebucht, und auch in den anderen Hotels der Stadt sei nichts mehr …
„David Thurn“, sagte er so leise an der Rezeption, dass der Portier, ein älterer Mann mit grauem Haar und einer dezenten Phantasieuniform, noch einmal nach dem Namen fragen musste. Dann schaute er in seinem Computer nach. Früher, als es noch Gästebücher gegeben hatte, da hatte nicht die Gefahr bestanden, dass eine Maschine den eigenen Namen mutwillig verschlang und die Existenz des Trägers leugnete.
„Zimmer 312“, sagte der Portier zu Davids großer Erleichterung und schob ihm einen Schlüssel mit einem großen Metallknochen daran über die Theke. „Einen schönen Aufenthalt wünsche ich.“
Das Zimmer war zweidimensional, es hatte keine Tiefe, so wie viele Menschen keine Tiefe haben. David war froh, dass er höchstens zwei Nächte hier bleiben musste. Morgen würde er sich die Bibliothek ansehen, und falls sich die Verhandlungen noch ein wenig hinziehen sollten, dann würde er eine zweite Nacht hier verbringen und spätestens übermorgen wieder heimfahren können. Den Abtransport würde er wie immer durch eine Spedition regeln lassen. Er besaß keinen Führerschein, denn er hatte Angst vor Autos, Angst vor dem Verkehr und vor allem Angst vor den Menschen, die in den Autos saßen und für den Verkehr und die andauernden Unfälle verantwortlich waren.
Nachdem David seinen kleinen Koffer ausgepackt hatte – er legte großen Wert auf tadellose Kleidung, damit man ihn nicht bereits wegen seines äußeren Erscheinungsbildes ablehnte –, stellte er fest, dass er seit heute Morgen noch nichts gegessen hatte. Ihm war der Gedanke zuwider, hinunter in das Restaurant des Hotels zu gehen, denn er liebte es nicht, in Gegenwart fremder Menschen zu speisen. Doch heute Abend blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Seufzend stellte er sich vor den hohen Spiegel, der auf die Innenseite der Tür geklebt war, und prüfte sein Äußeres. Der graue Anzug saß gut, war nicht verknittert, das weiße Hemd war fleckenfrei, soweit er sehen konnte, und das helle, an den Schläfen ausgedünnte Haar hatte er glatt zurückgekämmt.
Manchmal war es ihm, als versuchte er durch sein Äußeres mit den Gebäuden, den Straßen, den Plakaten und Bildwänden zu verschmelzen. Zu verschwinden. Nie dagewesen zu sein. Er lächelte traurig über diesen Gedanken, schlüpfte in seinen schützenden Mantel und
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