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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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Schon glaubte David den Stoff des schwingenähnlichen Mantels zu spüren, der ihn eine Sekunde lang einhüllte; dann war der Mann plötzlich verschwunden. David atmete auf schritt vorsichtig, wie in einem Traum weiter, aber er sah sich einer Mauer aus Menschen gegenüber, die ihm alle den Rücken zugekehrt hatten. Schon wandte er sich ab und wollte ein paar Schritte zurückgehen und die Straßenseite wechseln, doch auch hinter ihm stand eine Mauer aus Menschen. Er war umzingelt. Bekam kaum noch Luft. Zog die Schultern ein. Erwartend.
Aber niemand tat ihm etwas. Alle schienen langsam nach vorn zu streben, einem Ziel entgegen, das David nicht sehen konnte, denn er war nicht groß genug. Und David wurde mitgezogen, mitgedrückt, mitgeschoben. Er hätte schreien mögen vor Schrecken über all diese Menschen, aber er brachte keinen Ton heraus. Dann bildete sich eine Gasse vor ihm, und von hinten wurde immer noch geschoben. Die Berührung mit den anderen war widerlich. Schließlich brachte ihn der Druck in seinem Rücken zu einer Fensterfront, die zu einem Geschäft zu gehören schien. Er sah die Auslage, die nur aus einem einzigen alten, großen, rostigen Schlüssel bestand, wie man sie im Mittelalter benutzt hatte, und schon war er durch die Tür geschoben worden, die sich sofort hinter ihm schloss und nicht das leiseste Geräusch von draußen hereinließ.
Einen so seltsamen Laden hatte er noch nie gesehen. Es gab keine Regale, keine Schränke, keine Vitrinen, nichts außer diesem Schlüssel im Schaufenster und einer breiten Theke, beinahe wie die im Hotel, hinter der jemand saß, der ebenfalls eine Livree trug und David freundlich und geschäftsmäßig zugleich begrüßte. Hinter ihm befand sich die nackte, unverputzte Wand. Der Mann – denn um einen solchen schien es sich zu handeln, auch wenn sein Gesicht geschminkt war und eindeutig weibliche Züge hatte – brachte mit dunkler Stimme zum Ausdruck, wie sehr er sich freue, nun auch David als Kunden begrüßen zu dürfen, und holte unter der Theke einen kleinen Schlüssel hervor, der in ein modernes Schloss zu passen schien. Es habe ja lange gedauert, sagte der feminine Mann, bis David sich entschieden habe, aber daher sei es umso schöner, dass er nun diesen Schlüssel erhalten könne. Mit diesen Worten legte ihm der Livrierte einen Zettel vor, auf dem eine handschriftliche Notiz stand. Als David nicht reagierte, schob ihm der Livrierte den Zettel sowie den Schlüssel entgegen und nickte aufmunternd. David steckte beides in seinen Mantel. Das Wesen vor ihm lächelte erleichtert. David drehte sich um und wollte den Laden wieder verlassen, da hörte er, wie hinter ihm die dunkle Stimme mit leicht tadelndem Tonfall sagte:
„Aber nicht doch! Nicht dort hinaus. Für unsere Kunden gibt es eine bessere Tür.“
Verdutzt wandte sich David wieder der Theke zu und sah, dass das Wesen, das nun einen beinahe vogelartigen Eindruck auf ihn machte, eine Tür in der nackten Wand hinter sich öffnete. Als David an der Gestalt vorbei schritt, glaubte er das Zirpen von Grillen zu hören. Oder das Wispern von tausend Stimmen.
Er musste in einen Hinterhof gelangt sein. Hier war niemand zu sehen. David atmete auf. Ganz fern hörte er Verkehrslärm, doch dieser erschien ihm nun nur noch wie ein schlechter Traum. Im Licht einer Laterne, die an der Wand des Gebäudes hing, aus dem er soeben herausgetreten war, las er die Notiz, die er eingesteckt hatte. Eine Adresse stand darauf. Offensichtlich gehörte der Schlüssel zu dieser Adresse.
Es war die Adresse, bei der David morgen früh erwartet wurde, um eine große Bibliothek in Augenschein zu nehmen.
Er verließ den Hinterhof und betrat eine breite Straße.
Ruhig war es hier, es fuhren kaum Autos, und die wenigen, die fast geräuschlos an ihm vorbeikamen, waren wie verunsicherte, quälend langsam dahinkriechende Käfer in einem gefahrvollen Labyrinth. Sie wirkten so altertümlich, so matt und filigran.
Eines davon gehörte seinem Vater.
David blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Der alte Ford bog um eine Ecke, war verschwunden. Das trübe Licht der schwachen Straßenlaternen hatte den Wagen nur kurz mit Silberschein überzogen, doch David glaubte, dass er dieselbe Farbe hatte wie der alte Taunus seines Vaters: Himmelblau mit wölkchenweißem Dach.
Es war natürlich unmöglich, denn David konnte sich an seinen Vater genauso wenig erinnern wie an seine Mutter oder gar an das gemeinsame Auto der Familie. Er erinnerte sich nur an die
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