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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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immer genannt hatte. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann drang mir das Zimmer ins Bewusstsein – und damit auch der Zustand meiner armen Eltern. Rasch kleidete ich mich an und huschte hinunter über die Wendeltreppe, durch deren schachtartige Fensteröffnungen nun ein wenig Tageslicht fiel. Meine Überraschung war unbeschreiblich, als ich die Schlafzimmertür öffnete und sah, dass neben der Bettseite meines Vaters auf einem herbeigezogenen Stuhl jemand saß.
„Komm ruhig herein“, sagte mein Vater, dessen Stimme etwas fester als am vergangenen Abend klang. Ich regte mich nicht, sondern starrte den Fremden an. Es war ein Mann etwa in meinem Alter, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten auf. Während ich blond bin, war er schwarzhaarig. Er war dürr, hatte spitze, kantige Gesichtszüge, eine leicht nach unten gebogene Nase und ungeheuer langgliedrige Finger, mit denen er die rechte Hand meines Vaters umschlossen hielt. Ausdruckslos erwiderte er meinen Blick.
Ich blieb bei der geöffneten Tür stehen und fragte: „Wer ist das?“
Mein Vater flüsterte dem Mann etwas zu, der sich daraufhin erhob. Sein schwarzes, seidig glänzendes Hemd raschelte. „Es ist schon in Ordnung“, sagte er mit einer angenehmen, dunklen Stimme. „Du kannst dir ein wenig die Zeit vertreiben. Komm später wieder.“ Dann setzte er sich, nahm abermals die Hand meines Vaters zwischen seine langen, zarten Finger und redete leise auf den Sterbenden ein. Mein Vater nickte einige Male und lächelte den Fremden dabei an. Ich wagte endlich in das Schlafzimmer zu betreten, ging hinüber zu meiner Mutter und beugte mich über sie. Sie atmete sehr flach und nahm nichts in ihrer Umgebung wahr. Trotzdem streichelte ich ihre Wange. Dann schaute ich auf und sah, dass der Fremde mich wohlwollend beobachtete. „Geh jetzt“, sagte er.
Ich gehorchte ihm, wie ich gestern Abend meinem Vater gehorcht hatte.
Zuerst begab ich mich in das Wohnzimmer im zweiten Stock. Auch hier war alles so, wie ich es in Erinnerung hatte: die drei Sofas im rechten Winkel zueinander vor dem Kamin, die Beistelltische, die Stühle, die Gobelins an den Wänden, der große Lüster, der von der schwarzen, hohen Balkendecke herabhing, die alten, fadenscheinigen Teppiche über den Holzbohlen des Fußbodens. Ich hielt es hier nicht lange aus, denn ich dachte daran, wie viele Abende ich in diesem Zimmer mit meinen Eltern verbracht hatte – meinen Eltern, die über mir ihrem Tod entgegendämmerten. Ich lief hinunter in den ersten Stock, wo sich statt nur eines einzigen Zimmers wie in den oberen Etagen ein kleiner Speiseraum und, durch später eingezogene Wände davon abgetrennt, die Küche und das Bad befanden. Ich entdeckte an den Wänden Spuren derselben Flechten wie draußen an der Umfassungsmauer. Die Luft roch abgestanden. Hier war schon lange nicht mehr gelüftet worden. Und lange nicht mehr gekocht und gespeist.
Das Erdgeschoss wurde von einem großen, fensterlosen Raum mit einem flachen Kreuzrippengewölbe eingenommen, der als Keller diente. Den einzigen Zugang dazu bildete eine Falltür im Küchenboden. Schon als Kind war ich nur sehr ungern über die schmale Holzleiter in diesen schwarzen Raum hinabgestiegen.
Ich ging zurück in den Treppenturm, lief nach unten, ins Freie. Der Tag war sonnig, nur weit draußen auf dem Meer bildeten sich ein paar weiße, aufgebauschte Wolken, die wie geblähte Segel durch den blauen Himmel trieben. Tief in Gedanken versunken schlenderte ich an dem Halbkreis der Umfassungsmauer entlang und dachte über den seltsamen Fremden nach. Es war nicht der Arzt, das war eindeutig. Aber mein Vater schien ihn zu kennen und fühlte sich in seiner Gegenwart offenbar wohl – wohler als in meiner. Nachdem ich der Mauer vom einen Ende bis zum anderen gefolgt war, schaute ich über das Meer und auf die Felsen, über denen weiße Gischt unter endlosem Dröhnen und Tosen zerstob. Ich erkannte mit Erstaunen, dass ich draußen in der Stadt diese Geräusche vermisst hatte.
Lange stand ich da und blickte auf die Wellen hinaus, auf das ferne, blasse Grau des Horizonts, auf die darüber sich erhebende blaue Mauer des Himmels. Der Wind zerrte an meinen Haaren, schien durch mich hindurchzufahren. Ich lief zurück in den Turm.
Als ich mit bangen Gefühlen erneut das Schlafzimmer meiner Eltern betrat, war der Fremde verschwunden. Ich atmete auf, ging an die Bettseite meines Vaters – der Zustand meiner Mutter war unverändert – und fragte ihn, wer der Mann
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