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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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freundliche Oma Liselotte und den stillen, immer so traurigen Opa Fritz, alles andere war zu lange her. Vielleicht hatte er den Wagen seines Vaters einmal auf einer alten Fotographie gesehen. Oder er hatte sich nur eingebildet, Vater habe einen solchen Ford gefahren.
Nachdem David in die nächste Seitenstraße eingebogen war, weil er sich hier geborgener fühlte als auf der Hauptstraße hinter dem seltsamen Laden, auch wenn sie sehr ruhig gewesen war, sah er den alten Ford wieder. Er stand unmittelbar unter einer Laterne mit einem langen, wie neugierig vorgestreckten vogelartigen Lampenhals; von dem Fahrer war nichts zu sehen. David schaute hoch zum Straßenschild. Es war derselbe Name wie auf dem Zettel, den er zusammen mit dem Schlüssel erhalten hatte. Derselbe Name wie sein Ziel am nächsten Morgen. Am nächsten Morgen …
Die auf dem Zettel angegebene Nummer war die des Hauses, vor dem die Laterne stand. Und der Wagen. David trat in den Hauseingang, zog an der Tür, natürlich war sie verschlossen. Er versuchte die Klingelschilder zu lesen, aber trotz der Laterne fiel nicht genug Licht in den tiefen Eingang. David holte den Schlüssel aus der Tasche seines Mantels und steckte ihn in das Schloss der Haustür. Er passte.
Drinnen trieb ihm ein seltsamer Geruch entgegen. Er setzte sich aus Kochdünsten, nasser Wäsche, alten Bodenbelägen und allerlei anderen Ingredienzien zusammen und war unverwechselbar, wie der Geruch eines jeden Hauses dessen Identität zweifelsfrei beschreibt und festlegt. Langsam stieg David die knarrenden Stufen hoch. Sein Ziel lag im dritten Stock links, das wusste er, auch wenn auf dem Zettel weder ein Name noch die Bezeichnung des Stockwerks standen. Vor der Tür hielt er inne. Er hatte kein Licht eingeschaltet, hatte seinen Weg wie ein Schlafwandler im Dunkeln gefunden. David bückte sich und erkannte Bruchstücke des Namens, der in eine Messingplatte an der Tür eingraviert war. Diese Platte und die Namensteile waren das einzige wirklich Fremde hier. Der Geruch nach Vergangenheit war beinahe betäubend.
Er lauschte an der Tür. Hinter ihr war alles still. Behutsam führte David den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Die Tür schwang auf, und Dunkelheit atmete aus der Wohnung. Er trat ein und zog die Tür leise hinter sich zu. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, die immer stärker vom fahlen, silbrigen Licht der Laterne vor dem Haus durchzogen wurde. Jeder neue Blick, jedes erneute Öffnen der Augen nach dem Blinzeln verschaffte ihm das Gefühl, als erhalte er einen Stromschlag nach dem anderen. Die Bücher, die sich überall türmten, in den Regalen, auf dem Boden, auf wackligen Stühlen in der langen Diele, all das war fremd, doch der Zuschnitt der Diele, der Stuck, die weiß gestrichenen Holztüren mit ihren kleinen, mattierten Fenstern waren es nicht. David ging auf Zehenspitzen die Diele entlang. Jeder Schritt verursachte ihm neue Schmerzen. Hinter einer Tür hörte er lautes Schnarchen. Er ging vorbei, huschte in das letzte Zimmer zur Rechten. Auch hier verdeckten die unzähligen Bücher nur sehr unvollkommen das wahre Antlitz des Zimmers.
Seines Zimmers.
Als David über die Schwelle trat, hörte er hinter sich Geräusche. Es war nicht der gegenwärtige Bewohner, es waren die vergangenen. Er drehte sich um und sah sie. Beide. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten; sie liefen ihm an den Wangen herunter. Hier bist du in Sicherheit , sagten sie. 
Dann sah er sie, damals, und diese andere Gestalt: nicht Mann, nicht Frau, muskulös, mit wallenden blonden Haaren, das Gesicht nur Schwärze. Er sah das Messer in der Hand der Gestalt, er sah das Blut überall. Er sah es zum ersten Mal in greller, peinigender Deutlichkeit. Er hatte es damals nicht gesehen, nicht wirklich, hatte es in sich aufgenommen, hatte es aufgenommen wie ein Filmapparat, um es irgendwann später abzuspielen.
Irgendwann war jetzt.
Er hörte die Schreie, er sah, wie er sich unter seinem Kinderbett versteckte, wie die Mannfrau nach ihm suchte und er still sein musste, obwohl er so laut schreien wollte, dass man es bis zum Mond hätte hören können, zum Silbermond, der auf den Frauenmann fiel, oder war es die Laterne, und er den blutigen Mund in der Maske der Schwärze sah. Irgendwann war das Mannfrautier gegangen, fortgehuscht, und David hatte noch einen Tag und eine Nacht unter dem Bett in der Nähe seiner Eltern verbracht, bevor Opa Fritz ihn gefunden hatte. Opa Fritz war
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