Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
Vom Netzwerk:
verließ das Zimmer.
An der Rezeption musste er erfahren, dass das Restaurant heute geschlossen war; es sei eine Panne im Betriebsablauf eingetreten, was immer das bedeuten mochte. Aber es gebe ein gutes Lokal nur einige hundert Meter von hier, sagte der Portier und wies hinaus in die Finsternis.
In die Finsternis. Hinaus in die regennass glänzende Fremde. Nein, schrie es in David, aber er traute sich nicht, unter den fragenden Blicken des Portiers wieder nach oben zu gehen. Also verließ er das Hotel.
Es hatte aufgehört zu regnen. Der feuchte Film, der über der Stadt lag, war an vielen Stellen wie ein Spiegel. Auf dem Asphalt. An den Mauern. Den Fenstern. Ein Spiegel der Nacht, der ihre Träume bündelte.
Ein Spiegel, aus dem die Alpträume David sprungbereit anglotzten.
Kurz schloss er die Augen und blieb stehen. Nun atmete er etwas leichter.
„Kommen Sie und staunen Sie. So etwas haben Sie noch nicht gesehen!“
David zuckte unter der schrillen Stimme zusammen und riss die Augen auf. Rechts von ihm befand sich ein erleuchteter Hauseingang, der von zwei großen Spiegeln flankiert wurde. Spiegellust stand über dem Eingang. Und davor hockte wie ein Wächter eine missgestaltete kleine Person, die nur aus Verwachsungen und fließenden Formen zu bestehen schien. Die Stimme war sowohl männlich als auch weiblich. Sie streckte einen Arm hervor – so etwas wie einen Arm. David sprang vor der Gestalt davon, wechselte die Straßenseite unter dem wütenden Gehupe der Autos und lief ein paar Schritte, bis ihn eine Frau mit einer ungeheuer dunklen, rauchigen Stimme ansprach. 
„Du bist genau mein Typ. Kommst du mit? Ich werde dich wahnsinnig machen, das verspreche ich dir.“
Aus den Schatten der Häuser löste sich etwas sehr Großes und glitt auf die Frau zu, die ihren breiten, grell geschminkten Mund zur Maske eines Lächelns verzerrt hatte.
Davids Herz raste. Er hastete in eine Seitenstraße, die sich gerade in diesem Augenblick geöffnet zu haben schien, und verschwand in der Stille, die aus ihr wie Atemluft entwich. Hier waren die Häuser nicht mehr so hoch; kein Fenster durchdrang die Mauern in dieser Gasse, die einen seltsam fließenden Verlauf hatte. Keinen rechten Winkel schien es in ihr zu geben.
Als David am anderen Ende wieder herauskam, war ihm, als hätte die Gasse ihn ausgespuckt. Er stand nun auf einer größeren, heller beleuchteten Straße und wusste nicht mehr, wo er war, und das Restaurant, das der Portier ihm genannt hatte, würde er wohl nie mehr finden. Doch sicherlich war es gut so. In der Bahnhofsgegend gab es schließlich nur selten gute Lokale. Bestimmt hatte ihn der Portier absichtlich in die Irre geschickt, oder er hatte gewollt, dass David in einer üblen Kaschemme landete. Sein Hunger war verschwunden, und er wollte nur noch zurück in die relative Sicherheit seines Hotelzimmers. Wenn diese Bibliothek nicht wäre …
Er konnte sich nicht erinnern, je in dieser Stadt gewesen zu sein, und doch kam sie ihm auf vage Weise bekannt vor. Beinahe hatte er den Eindruck, als Kind hier gewesen zu sein. Vielleicht hatte er einmal einen Ausflug mit seinen Großeltern hierher gemacht, dachte er, als er die kleinere, stillere Straße entlangging, von der er hoffte, dass sie ihn in die Richtung des Bahnhofs und seines Hotels zurückführte. Er hatte mit seinen Großeltern viele Ausflüge gemacht, nachdem er bei ihnen eingezogen war, weil seine Eltern verstorben waren. Am schönsten waren die Reisen in Gegenden gewesen, in denen es keine Städte gab, sondern nur Bäume, Berge oder das Meer.
Doch so sehr er sich auch von den Menschen fernhielt, so war er als Antiquar immer wieder gezwungen, Ankäufe in größeren Städten zu tätigen, und jedes Mal war es ein Alptraum für ihn. Hier konnte jederzeit das Unheil hereinbrechen. Dass es nie wirklich über ihn hereingebrochen war, spielte dabei keine Rolle. Die Angst vor dem Unbestimmten ist immer schrecklicher als die Wirklichkeit.
David war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er den Menschenauflauf vor sich nicht bemerkt hatte. Er stieß einer schwarzen Gestalt in einem aufgebauschten Mantel in den Rücken, die sich daraufhin langsam umdrehte. Durch den breitkrempigen Herrenhut, den die Gestalt trug, konnte David ihr Gesicht nicht sehen. Er murmelte eine Entschuldigung und machte sich so klein und unauffällig, wie er konnte. Der Mann vor ihm reckte sich, wurde größer und größer und schien über den schlotternden David Thurn herfallen zu wollen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher