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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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von dem massigen, wie ein drohender Finger aus dem Gras aufragenden Quader schmiegte sich hilfesuchend an die altersdunklen Steine.
Sicherlich erwarteten meine Eltern mich bereits. Dass in ihrem Schlafzimmer Licht brannte, beruhigte mich ein wenig. Doch als ich auf dem Weg über den Rasen aufmerksam das erleuchtete Fenster in der Hoffnung betrachtete, jemand beobachte meine Ankunft oder winke mir gar zu, stellte ich verwirrt fest, dass sich an der Fassade eine glitzernde Spur bis zu dem hellen Fenstergeviert hochzog; sie schien geradewegs in das Licht einzubiegen. Dann hatte die schwarze Regenwand das Festland erreicht, und es ging ein Schauer nieder, der den gesamten Turm mit einer feucht glitzernden Schicht überzog und die seltsame Spur auslöschte.
Ich lief auf den Treppenturm zu, doch als ich endlich unter dem kleinen Vordach stand, war ich bereits durchnässt. Ich holte den altertümlichen großen Schlüssel aus meiner Manteltasche, sperrte die Tür auf und eilte die finstere Wendeltreppe hoch, auf deren ausgetretenen Stufen ich sogar im Schlaf nicht gestrauchelt wäre. Ich kannte jede Unebenheit, kannte alle Abstände der einzelnen Stufen zueinander, kannte den Grad ihrer Drehung. Ich brauchte kein Licht.
Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Sie ruhten nebeneinander in dem großen Himmelbett, inmitten eines Meeres von Kissen und Laken, die offenbar schon lange nicht mehr gewechselt worden waren. Meine Mutter lag wie im Schlaf da, doch mein Vater hob die Hand. Ich ging um das Bett herum und ergriff sie. Das Gesicht meines Vaters war eingefallen, abgemagert und von einer pergamentartigen Beschaffenheit. Große, braune Flecken hatten sich im Gesicht und an den Händen ausgebreitet und erinnerten mich an die Flechten, die sich draußen über die Umfassungsmauer zogen.
„Es ist gut, dass du gekommen bist“, sagte mein Vater mit brüchiger Stimme. Ich nickte; es war mir nicht möglich, ein Wort zu sagen. Ich erkannte diesen Mann, der da vor mir inmitten der unsauberen Bettwäsche lag, kaum wieder. Mehr als zehn Jahre war ich fort gewesen, hatte meine Eltern seitdem nicht mehr gesehen, nur Briefe mit ihnen gewechselt und sie dann und wann angerufen. Ich war so froh gewesen, diesem Turm, diesem Küstenland, diesem Leben entronnen zu sein.
Mein Vater strich mir mit seiner klauenartigen Hand über die Wange. Ich zitterte vor Mitleid, Liebe und Abscheu. „Du bist aber ein wenig zu früh“, sagte er leise. „Wir haben erst morgen mit dir gerechnet.“
„Ich bin so schnell wie möglich gekommen“, antwortete ich. „Schläft Mutter?“
Vater nickte. „Sie schläft schon seit gestern. Sie wird nicht mehr aufwachen. Aber sie ist noch unter uns. Sie hat so auf dich gewartet.“
Ich sah hinüber zu meiner Mutter. Tränen traten mir in die Augen.
„Ruh dich aus von der weiten Reise“, flüsterte mein Vater, den das Sprechen sehr anzustrengen schien. „Du bist ganz nass. Geh auf dein Zimmer. Morgen reden wir weiter.“
Wortlos gehorchte ich. Als ich bei der Tür stand, warf ich einen letzten Blick in das große Schlafzimmer. Vor dem Himmelbett stand noch immer die Barocktruhe und an der Wand gegenüber der Tür der Walnussschrank. Die Frisierkommode meiner Mutter befand sich an ihrem üblichen Platz links neben dem Fenster, das auf den Wald hinausschaute und zu dem die glitzernde Spur geführt hatte. Stühle, Bilder – wie früher, unverändert. Als wäre die Zeit erstarrt.
Auch in meinem eigenen Zimmer im vierten und obersten Stockwerk hatte sich nichts geändert. Das Bett mit den hohen Seitenteilen, fest an die Wand geschoben, von dort der Blick durch das Fenster auf den Himmel landeinwärts und auf die fließenden Kronen der Kiefern. Der kleine Kleiderschrank, in dem immer noch meine Hemden, Hosen, Pullover hingen, der Schreibtisch unter dem Fenster, das zum Meer hinausging und an dem ich viele Stunden ziellosen Umherdenkens verbracht hatte, der Ohrensessel neben dem kalten Kamin, das Regal mit den Büchern, die ich bei meinem Auszug nicht hatte mitnehmen wollen – all das begrüßte mich, als sei ich nur einen Tag weggewesen.
Ich war müde von der langen Reise und ging sofort zu Bett, nachdem ich mich gewaschen hatte. Die Laken rochen zwar etwas muffig, aber sie waren sauber, unbenutzt seit vielen Jahren. Ich hatte Träume von meinen Eltern, von Dunkelheiten und rätselhaften Spuren, und ich erwachte unausgeschlafen und mit Kopfschmerzen, als die Sonne durch das Waldfenster lugte, wie ich es
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