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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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seit jenem Tag ein anderer Mensch gewesen.
Es hat so lange gedauert, aber wir hatten die Hoffnung nie aufgegeben , sagten sie gemeinsam und kamen näher. Wir haben hier auf dich gewartet . Durch den Schleier seiner Tränen sah David sie. 
Er lief auf sie zu.
Und bemerkte, dass er gar nicht mehr laufen musste.
Zum ersten Mal.
Gemeinsam trieben sie hinaus in die stille Nacht.
Und zum ersten Mal bemerkte er, dass er keine Angst mehr hatte.
     
Ende
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
Die Rückkehr
Ich betrat den schwarzen Kiefernwald und hatte das Gefühl, mit diesem Schritt den einzigen lichten Abschnitt meines Lebens hinter mir zu lassen. Doch der Gedanke an Daphne und an das, was sie mir angetan hatte, warf auch auf diese Zeit draußen in der Stadt einen bedrückenden Schatten. Der sandige Boden des gewundenen Pfades knirschte unter meinen Schuhen. Es war ein Geräusch, das alte, in seltsamem Zwielicht schwebende Erinnerungen in mir wachrief. Als Schuljunge war ich jeden Morgen diesen Weg zur nächsten Straße und zum Bus gegangen, und jeden Nachmittag war ich wieder heimgekehrt in den raunenden Traum des Waldes und dessen, was dahinter lag.
Der Weg schlängelte sich an den niedrigen Bäumen mit den breiten Kronen vorbei, die ein beinahe zusammenhängendes dunkelgrünes Dach bildeten, durch das nur wenig Licht auf den Sandboden fiel. An etlichen Stellen hatten sich Flechten und Gräser über ihn ausgebreitet; er war daher viel dunkler, als ich ihn in Erinnerung hatte.
Ich fragte mich, was mich erwarten würde. Der Anruf hatte etwas Flehendes, Drängendes gehabt, dem ich mich nicht hatte entziehen können. Zwar hatte ich damals geschworen, diesen Ort nie wieder zu betreten, doch die Not meines Vaters hatte mich sofort umgestimmt – beängstigend schnell.
Über dem Nadeldach brauste der ewige Wind, der vom Meer her landeinwärts blies. Die Bäume schienen sich unter ihm zu ducken und aneinander Halt zu suchen. Hier unten, auf dem Weg, war hingegen kaum ein Luftzug zu spüren. Es war, als schnaube der Wald aus riesigen Nüstern himmelwärts.
Ich kam an die alte Mauer, die schon damals, zu meiner Kinderzeit, baufällig gewesen war. Nun hatten sich Moose auf ihr ausgebreitet; sie schienen die zerbröckelnden Steine stärker zusammenzuklammern als der locker gewordene und an vielen Stellen herabgefallene Mörtel. Das ehemals grün gestrichene Holztor mit dem halbrunden oberen Ende zeigte nur noch Reste von Farbe. Ich drückte die Klinke herunter. Wie üblich war das Tor nicht verschlossen. Die Angeln knarrten und quietschten, und ich musste mich heftig gegen das Holz stemmen, bis das Tor endlich nachgab und aufschwang.
Wie lange mochten meine Eltern den Turm nicht mehr verlassen haben?
Als ich durch die Mauer trat, trat ich in eine andere Welt. Vor mir erstreckte sich eine ausgedehnte Rasenfläche, die hinten an der Steilküste abbrach. Die Wellen bildeten den grauen Horizont, der mit herbeisegelnden, regenträchtigen Wolken verschmolz, die umso schwärzer wurden, je näher sie dem Land kamen. Das Meer wütete mit raubtierhaften Lauten gegen die von hier aus unsichtbaren Felsen tief unten am steinigen Strand. Die Mauer zog sich in einem weiten, annähernd vollkommenen Halbkreis um den Turm, begann und endete an der Steilküste. In diesem Halbkreis wuchs kein Baum, kein Strauch. Das bedrohliche Walddunkel hörte an der Mauer auf, wurde von ihr wie unter großer Mühe zurückgehalten.
Ich schloss das Tor wieder und warf einen Blick zurück auf die pilzartigen, im Winde zitternden Kronen der Kiefern. Schon damals, in meiner Kindheit, war mir der Wald wie ein lebendes Wesen vorgekommen, das irgendwann die Mauer überwinden, den Turm verschlingen und sich dann ins Meer stürzen würde.
Langsam drehte ich mich um und ging auf den Turm zu, der so dicht an der Küste stand, dass seine westliche Mauer beinahe über dem Meer zu schweben schien. Jeder Schritt brachte mich meiner Kindheit näher – den Stunden, die ich in diesen bedrückenden Mauern zugebracht hatte, verzehrt von dem Wunsch, die Küste und den Wald hinter mich zu lassen und irgendwo draußen ein frisches Leben zu beginnen.
Aus dem schmalen Fenster im dritten Stock fiel gelbes Licht in die vom Meer hereinwehende Dämmerung. Darüber und darunter klebte Dunkelheit an dem steinernen, quadratischen Klotz und dem Spitzdach über der Brustwehr mit den erkerartigen Ausgucken an jeder Ecke. Der kleine runde Treppenturm rechts
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