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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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sich in nichts von ihnen unterschied, und fuhr mit der Hand in die entstandene Höhlung. Das Nachbarregal schwang in den Kellerraum hinein.
Und enthüllte eine in die Tiefe führende Wendeltreppe.
Ohne abzuwarten, dass sich mein Erstaunen legte, lief der Mann auf den obersten Absatz der Wendeltreppe. Mit weit hinter sich ausgestreckten Händen hielt er meinen Vater scheinbar mühelos bei den Schultern gepackt, während mir die Arme allmählich lahm wurden. Ich stolperte hinter dem Mann her, weiter hinunter, immer tiefer in die Eingeweide der Erde. Ich mutmaßte, dass wir uns unter dem runden Treppenturm befanden, dessen Spiegelbild sich hier in die Tiefe fraß.
Ich weiß nicht, wie lange wir die steilen, kaum ausgetretenen Stufen hinabgeschritten waren, als wir schließlich einen Schachtboden im Innern der Felsen erreichten. Von fern hörte ich die Wellen gegen die Küste anbranden. Vermutlich befanden wir uns hier auf der Höhe des Meeresspiegels oder sogar darunter. Von dieser verborgenen Wendeltreppe hatte ich nichts gewusst. Ich fragte mich, ob sie meinen Eltern bekannt gewesen war. Mechanisch ging ich hinter dem Fremden her, konnte meinen Vater kaum noch tragen, keuchte schwer; mein Atmen brach sich an den glänzend feuchten Felswänden, die mit ungeheurer Sorgfalt behauen und geglättet worden waren.
Dass sich unsere Umgebung veränderte, bemerkte ich zuerst an meinem Atmen. Hatte es zuvor noch dumpf geklungen, verursachte es nun einen ungeheuren, fernen Hall. Verblüfft sah ich, dass sich der Schacht zu einem gewaltigen unterirdischen Saal geweitet hatte, der sich fern in der Dunkelheit verlor. In die Wände waren Halterungen mit Fackeln eingelassen, deren rotes Licht seltsame, über den Fels huschende Schatten erschuf. Im Abstand von etwa zehn Metern trugen gemauerte Pfeiler das Deckengewölbe, das so glatt wie in einer Kirche war. Ich fragte mich, wer diesen gewaltigen Raum entworfen und erbaut hatte. Und wozu er diente.
Der Boden war genauso glatt wie die Wände und die gewölbte Decke, und die in weitem Abstand voneinander brennenden Fackeln reichten nicht, um den gesamten Raum auszuleuchten. Der Fremde lief mit dem Leichnam meines Vaters in das Zwielicht hinein, und ich eilte mühevoll hinter ihm her. In einiger Entfernung vor mir bemerkte ich regelmäßige Umrisse auf dem Boden. Je näher wir ihnen kamen, desto deutlicher traten sie aus den zuckenden Schatten hervor. Es waren rechteckige Erhebungen, etwa einen Meter breit und zwei Meter lang. In Höhe der ersten Erhebungen hörten die Fackeln auf; wie viele Reihen dieser vollkommen regelmäßigen Gebilde in der Dunkelheit folgen mochten, war daher nicht einmal zu erraten.
Der fremde Mann ging mit dem Leichnam meines Vaters zur ersten Reihe der merkwürdigen, scharfkantigen Kästen. Jetzt sah ich, dass die Abdeckung des äußersten linken Kastens abgehoben war. Und endlich begriff ich, dass ich vor einem Gräberfeld stand.
Der schwarze Mann bedeutete mir, mit ihm zusammen die Leiche in das vorbereitete Grab zu betten, dessen Deckel links daneben lag. Als wir diese Arbeit vollbracht hatten, wuchteten wir gemeinsam den Deckel auf das Grab. Wortlos drehte sich der Mann um und lief zurück in Richtung des Schachtes, der uns hergeführt hatte.
Ich wollte noch ein Gebet sprechen, doch dafür blieb keine Zeit. Rasch folgte ich den verhallenden Schritten des Mannes, denn ich wollte um keinen Preis in dieser verwirrenden, erschreckenden Unterwelt allein zurückbleiben. Ich warf einen kurzen Blick zurück auf das Gräberfeld und fragte mich, ob hier all meine Ahnen ruhten. Warum hatten mir meine Eltern nie etwas von diesem Friedhof tief unter dem Turm erzählt? Warum hatten sie nie auf die Fragen nach meinen Großeltern geantwortet?
Bald hatte ich den Fremden eingeholt, und wir stiegen hinauf in den ebenerdigen Keller und von dort über die Leiter in die Küche. Weiter ging es die Wendeltreppe hinan, das Spiegelbild der Unterwelt, bis zum Schlafzimmer meiner Eltern. Nun war meine Mutter an der Reihe.
„Wer sind Sie?“, wagte ich endlich noch einmal zu fragen, als der Mann meiner Mutter mit geübtem Griff unter die Schultern fasste. Er hielt kurz inne, sah mich mit einer Mischung aus Belustigung, Mitleid und Zärtlichkeit an und sagte:
„Ein sehr alter Freund der Familie.“
Dann verfuhr er mit meiner Mutter auf dieselbe Weise, wie er es bei meinem Vater getan hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm erneut zu helfen. Auf dem beschwerlichen Weg in die
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