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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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mein Zimmer und schlief.
Heute morgen erwachte ich spät. Ich wusch mich rasch, zog mich an und wollte mit dem Fremden reden. Er war nicht mehr da. Ich suchte den ganzen Turm nach ihm ab, sogar den ebenerdigen Keller, aber die Wendeltreppe hinunter in den Fels wollte ich nicht betreten.
Ich fand sie nicht einmal wieder.
Das Regal stand an seinem alten Platz, und ich hatte keine Ahnung, welche Flasche der Fremde entfernt hatte, um an den hinter ihr liegenden Mechanismus zu gelangen. Doch als ich in der Dunkelheit des Kellers stand, eine Fackel in der Hand – die übrigen an den Wänden waren erloschen oder eher ausgelöscht worden – und über die Ereignisse des vergangenen Tages nachgrübelte, hörte ich es zum ersten Mal. Ich floh nach oben, ins schwache Licht der Küche, und warf die Falltür zu. Dann löschte ich die Fackel und verließ den Turm.
Ich rannte bis zum Tor in der Umfassungsmauer, wollte durch den schwarzen Kiefernwald laufen, hinaus in die Welt dahinter. Es wäre so einfach gewesen. Doch ich drehte mich um und betrachtete den Turm.
Und sah an der moosüberwucherten Mauer die glitzernde Spur.
Diesmal nahm sie ihren Ausgang im zweiten Stock, beim östlichen Fenster des Wohnzimmers – dort, wo ich gestern Abend gesessen hatte. Unschlüssig ging ich auf die Spur zu. Sie endete nicht im Gras, sondern führte dick und glänzend über das Grün bis zur Steilküste. Dort erst brach sie ab, als habe sich das, was diese Spur verursacht hatte, ins Meer gestürzt. Ich legte mich auf den Bauch und robbte so weit wie möglich an den Abhang heran. Doch tief unten, zwischen den Felsen, war nichts anderes zu sehn als die weiße Gischt der Brandung. Vorsichtig glitt ich mit schlängelnden Bewegungen rückwärts, stand auf und ging zurück in den Turm.
Ich sitze schon seit vielen Stunden an meinem Schreibtisch im vierten Stock, schaue dann und wann über das Meer hinaus, verfasse diesen Bericht, und immer deutlicher höre ich das, was ich zum ersten Mal heute Morgen unten im Keller vernommen habe. Es ist nichts, was ich mit meinen Ohren höre. Ich höre es mit Sinnen, von deren Existenz ich bisher keine Vorstellung hatte. Es wird lauter. Bald ist es soweit.
Bald wird sie heraufkommen und vor mir stehen.
Sie wird mir die Rückkehr unmöglich machen. Sie wird mich zum Glück verdammen. Meine Frau.
Ich werde sie Daphne nennen.
     
Ende
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
Abendstimmung mit Burgruine
     
Die ersten Abendschatten drückten bereits gegen den Hang, als Georg Plath die Ruine der Oberburg bei Manderscheid erreicht hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn; es war ein ungewöhnlich warmer Frühlingstag gewesen. Vor ihm ragte der efeubewachsene Torbogen auf; dahinter führte der Weg noch ein wenig weiter steil bergan. Georg trat aus der Dunkelheit der Tannen, die den überwucherten Pfad säumten, und spürte die Wärme, die die alten Steine den Tag über gespeichert hatten. Es war wie eine schmetterlingshafte Umarmung aus tiefer Vergangenheit. Er ging weiter.
Als er den Bogen passiert hatte, sah er den gewaltigen Bergfried rechts über sich. Ansonsten gab es nur noch einige Umfassungsmauern und einen kleineren Turm aus der ehemaligen Wehranlage. Vom Bergfried aus hatte man sicherlich einen wunderbaren Blick über das Land und die weiter unten auf einem bizarr geformten Bergrücken hockende Ruine der Niederburg. Es gab gute Gründe, dort hochzusteigen. Er nahm die Mühe auf sich und wurde nicht enttäuscht.
Als er wieder unten war, setzte er sich auf eine der grün gestrichenen Bänke vor dem Bergfried und schaute über die bröckelnde Burgmauer in das zerklüftete Tal, auf dem schon der Hauch der Nacht lag. Wie mit der Stange gegen den samtigen Himmel gedrückt, erhob sich ein narbiger Mond über die Spitzen der Bäume und versilberte den Rand einiger zarter Wolken, deren Bäuche in tiefem Schwarz leuchteten.
Hinter Georg raschelte etwas.
Er drehte sich auf der Bank ruckartig um. Ein Schatten mit blassen Rändern, beinahe wie eine winzige, vom Himmel gestürzte Wolke, verdeckte den Eingang zum Bergfried. Georg blinzelte, dann rieb er sich die Augen. Der Schatten bewegte sich, trat unter dem Türsturz hervor, fleckte den grünen Rasen. Und kam auf Georg zu.
Er war erstaunt, dass sich zu so später Stunde noch ein Besucher in der Burgruine befand; er hatte gehofft, allein hier zu sein, allein wie
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