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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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Tiefe fragte ich mich, warum ich diesen Freund meiner Eltern, der doch kaum älter als ich selbst zu sein schien, noch nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht waren er und meine Eltern erst nach meinem Auszug miteinander bekannt geworden, doch warum bezeichnete er sich dann als „sehr alten“ Freund der Familie?
Wir erreichten die Küche, machten uns auf den gefahrvollen Abstieg über die Leiter, durcheilten den Keller, wanden uns weiter hinunter in die Gewölbe der Erde, schritten den Felsschacht entlang und kamen zu dem gewaltigen Saal mit den unzähligen Gräbern. Ich erwartete, dass der Fremde meine Mutter ebenfalls hier zur letzten Ruhe betten wollte, auch wenn mir nun auffiel, dass ich vorhin kein weiteres offenes Grab gesehen hatte. Meine Überraschung war groß, als der Fremde einen anderen Weg einschlug. Er durchquerte den unterirdischen, schwach vom Fackelschein erhellten Saal von rechts nach links und kam zu einem sehr schmalen, nach oben und unten sich verjüngenden Spalt im Fels. Gemeinsam trugen wir die Tote hindurch. Ich hatte ein weiteres Gräberfeld erwartet, doch wir befanden uns nun in einem Raum, der kaum vier Meter lang und genauso breit sein mochte. In der Mitte dieser Kammer stand etwas, das zunächst wie eines der Gräber im Saal nebenan wirkte, doch es war anders.
Es wuchs aus dem Boden hervor, war an den Kanten abgerundet, und ich vermochte nicht zu erkennen, wo der Boden endete und wo das Grab begann. Es war wie eine Ausstülpung des Felsens.
Doch es war nicht aus Stein.
Da es keinen Deckel hatte, konnte ich in das Innere des amorphen Gebildes schauen. Den Boden bildeten feine Fäden, wie Spinnweben, wie geronnene Gedanken. Ein rosiger Hauch lag über ihnen. Sie pulsierten.
Der Fremde legte den Oberkörper meiner Mutter auf die Umrandung, die, wie mir schien, unter dem Gewicht leicht nachgab.
„Dort hinein?“, fragte ich entsetzt. Meine Stimme klang schrecklich fremd in meinen Ohren.
Der Fremde nickte und ließ die Schultern meiner Mutter los. Ihr Kopf sackte weg; der Oberkörper folgte, und mir wurden die toten Beine aus den Händen gerissen. Der Leichnam meiner Mutter glitt langsam, wie aus eigener Kraft in dieses Gewimmel aus sich dehnenden und zusammenziehenden Gespinsten. Er sackte in sie ein; die Fäden und feinen Fortsätze umsponnen meine Mutter, durchdrangen sie, krochen ihr in Nase und Mund, kamen aus den Augen wieder heraus, aus den Ohren, aus den verrunzelten Fingerkuppen. Ihr Körper zuckte wie aus eigener Kraft. Und er verwandelte sich.
Ich schlug die Hand vor den Mund, erstickte einen Schrei und floh aus dem schrecklichen Raum. Bevor ich durch den schmalen Spalt hastete, sah ich, dass die Wände des Raumes ebenfalls pulsierten. Vielleicht aber war es nur ein Trugbild, hervorgerufen durch die Fackeln und die treibenden Schatten.
Ich stürzte durch den Gräbersaal, durch den Schacht, die Wendeltreppe hinauf, in den Keller des wirklichen Turmes, die wirkliche Wendeltreppe hinauf, in das Wohnzimmer, in die wirkliche, weltenferne Welt. Ich ließ mich in einen der Ohrensessel neben dem östlichen, dem Wald zugewandten Fenster fallen und weinte.
„Dort hat damals auch dein Vater gesessen, und auch er hat geweint“, sagte eine Stimme durch den Schleier meines Schreckens. Ich sah auf. Hinter den Tränen saß der Fremde mir gegenüber in einem anderen Sessel. Er hatte die Beine übereinander geschlagen wie jemand, der ein Recht hatte, hier zu sein. „Alles ist gut“, fuhr er fort. „Du wirst es sehen. Dein Vater hat es an jenem Tag vor so vielen Jahren nicht glauben wollen. Er war wie du. Du bist wie er. Er hat hier sein Glück gefunden, und bald wird es auch zu dir kommen.“
„Die Gräber ...“, begann ich. Weiter kam ich nicht. Ein Weinkrampf überfiel mich.
Der Fremde nickte. „Du weißt, was kommen wird. Heute hast du in deine eigene ferne Zukunft geblickt.“
„Liegen dort unten all meine Ahnen?“
„Nur die männlichen ...“ Die Stimme des Fremden verdämmerte im Raum.
„Meine Mutter ...“, schluchzte ich. „Was ...“
„Du warst unglücklich. Bald wirst du glücklich sein“, sagte der Fremde. Ich verstand seine Worte, aber ich verstand nicht ihren Sinn. „Geh jetzt auf dein Zimmer und schlafe. Morgen wirst du begreifen.“
Ich wollte ihn so viel fragen, ich wollte aufbegehren, ich wollte fliehen, ich wollte den Turm in Brand stecken und ihn und das Gräberfeld und jene schreckliche Kammer von der Erde tilgen, aber statt dessen ging ich gehorsam nach oben auf
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