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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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wurde aber im letzten Jahr gewartet, wie an einer Plakette in der seltsam riechenden Kabine abzulesen ist. Geruch einer technischen Vergangenheit, die zu dem Geruch einer tieferen, unter den geblümten Tapeten und dem fast neuen Teppichboden verborgenen Zeitschicht einen scharfen Kontrapunkt schafft.
Die Wirklichkeiten haben sich wieder angenähert, erklären einander.
     
     
Das Zimmer war … enttäuschend? Beruhigend?
Ein Einzelzimmer, eingerichtet aus einem billigen Möbelhaus irgendwann in den neunziger Jahren, ein wenig abgeschabt, ein wenig geneigt, wohl auch wegen des unebenen, hier mit Auslegeware beklebten Bodens, eine Tütenlampe aus den Fünfzigern an einer endlos wirkenden Schnur von der hohen Decke, mit einer Sparbirne darin, die seltsam schlierige Schatten hinterließ, in der Ecke ein uralter Heizkörper, der offenbar alle Renovierungsversuche überlebt hatte. Rohre führten zu ihm hin und von ihm weg, die viel dicker waren, als es nötig erschien, und andere Rohre in derselben Zimmerecke, die durch mehrere Vorsprünge eine wirre, auf den ersten Blick fremdartig wirkende Geometrie angenommen hatte, führten an den verwinkelten Wänden entlang und durch sie hindurch. Der Heizkörper war warm; ein leises Zischen in ihm wirkte wie das eingefangene Rauschen der Bäume draußen vor dem hohen Fenster.
Alfred packte seine Reisetasche aus, räumte den Inhalt in den Schrank – er hatte die Angewohnheit, nichts Persönliches sichtbar in einem Hotelzimmer liegen zu lassen, sodass es aussah, als ob es unbewohnt wäre, denn er hasste es, etwas von sich preiszugeben – und öffnete das Fenster.
Es war kein Fenster; es war eine Tür.
Dahinter befand sich ein nach vorn abschüssiger Balkon, der vor einer hohen hölzernen Brüstung endete, an der sich Alfred dankbar festhielt, denn er hätte auf den unebenen Dielen beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre nach vorn gestürzt.
Er hielt sich an der Reling fest und streckte den Kopf in die wilde Meeresgischt.
Und schloss die Augen.
Und schien das Salz auf den Wangen zu spüren.
Und öffnete die Augen. In Nachtschwärze hinein. Natürlich rauschten nur die Bäume im Wind, der noch stärker geworden war. Vor ihm sah er peitschende Bewegungen von langen Astarmen, wild sich öffnende und schließende Zweigglieder und zuckende, zungenartige Blätter. Dazwischen leuchtete immer wieder in einiger Entfernung ein rötliches Licht auf. Alfred hatte den Eindruck, in großer Höhe zu stehen, auf einer Ebene mit den Baumkronen, aber nichts in der Finsternis gab ihm einen sicheren Anhaltspunkt. Das rötliche Licht allerdings leuchtete weit unterhalb seines von Wind und Laubwerk umtosten Aussichtsplatzes.
Das Licht gefiel ihm nicht; es hatte etwas Verstohlenes, Heimlich-Unheimliches an sich.
Der Wind trieb ihn zurück ins Zimmer. Er legte sich ins Bett, hörte weiterhin das Rauschen, und es war, als treibe der Wind auch sein Bewusstsein davon.
     
     
Das Licht habe ich nicht gesehen, es ist ein Einfall, eine Abweichung. Ich gehe auf den Balkon, es ist dunkel, Sturmnacht, und zwischen den schaukelnden, tanzenden Blättern der gewaltigen Buche, die fast bis zu mir heranreichen, sehe ich jetzt das Licht, rötlich, glimmend wie ein Auge. Es sieht mich an, und ich gehe wieder nach drinnen. Ich habe das Gefühl, dass es mich auch jetzt noch sieht.
     
     
Alfred erwachte frisch und gestärkt in einem grünlichen Morgenlicht. Er rieb sich die Augen, stand auf und begab sich im Schlafanzug auf den Balkon. Die Bäume begrüßten ihn raunend, nicht mehr so wild wie am vergangenen Abend, aber von einer mühsam verhaltenen Lebhaftigkeit. Vorsichtig ging er auf dem abschüssigen Boden nach vorn zur Brüstung und schaute hinunter. Ein kleiner Garten war umzingelt von Buchengewirr, Ahorngewimmel, Eichengeknorr. Der Balkon schwebte darüber, knarrend, mit abgeblätterter Farbe, im zweiten Stock. Über ihm befanden sich noch eine weitere Etage und das Dachgeschoss, wie er feststellte, als er sich weit über die Brüstung beugte und hochsah. Dann huschte er wieder nach drinnen, weil er durch das angrenzende Fenster im Nebenzimmer eine Bewegung gesehen zu haben glaubte.
Das Frühstück nahm er in einem Saal ein, an einem Tisch mit einer grau gewordenen Decke, auf denen die Flecken ein rankendes Efeumuster gebildet hatten. Zwei Brötchen, Schinken, Käse, Quark, Butter, Marmelade, Kaffee, ein Ei und ein Glas Orangensaft standen für ihn bereit. Er war der einzige Gast; nirgendwo sonst war
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