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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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anderen Seite.
Dort befand sich im Untergeschoss des an den Hang gedrückten Gebäudes eine Tür mit Butzenscheiben. Und eine Klingel, neben der ein Schild mit der Aufschrift „Rezeption“ zur Hoffnung Anlass gab. Er schellte, wartete lange, schellte ein zweites Mal, wartete. Endlich hörte er etwas.
Es war ein hohes, knirschendes und beinahe schmatzendes Geräusch. Ein schwacher Lichtschimmer drang hinaus, wurde abgeschnitten. Etwas kratzte von innen an der Tür.
Ein Schlüssel wurde umgedreht, die Tür wurde aufgezogen und eine sehr alte Dame stand in der Dunkelheit vor ihm. „Sie … wünschen?“
Ihre gefärbten, leicht in ein unnatürliches Rot spielenden Haare waren aufgetürmt wie die des Blütenkelches einer schweren, trägen Orchidee.
Er fragte nach einem Zimmer, obwohl er sich nicht sicher war, ob er wirklich eines in diesem Hause beziehen wollte.
     
     
Ungenauigkeiten haben sich eingeschlichen, Unsauberkeiten, nicht wichtig, aber eine Distanz schaffend, die ich eigentlich vermeiden wollte. Die Haare der alten Dame sind nicht rötlich, sondern von einem befremdend hellen Braun, vermutlich getönt, und die Eingangstür hat keine Butzenscheiben, sondern gewöhnliches klares Glas. Soll ich es ändern? Kann ich es ändern?
     
     
„Frau Lilienthal schläft, und ich kann sie jetzt nicht wecken“, sagte die Frau mit den seltsamen Haaren. „Aber ich weiß, dass noch Zimmer frei sind. Kommen Sie herein.“ Sie machte Alfred mit einer geschmeidigen Geste Platz. Ihr Arm bewegte sich wie ein Blumenstengel im Wind; die langen, schmalen Finger der Hand öffneten sich blütenblättergleich. Alfred trat ein; die Tür schlug hinter ihm zu.
Dunkel war es hier, doch ein matter Lichtbalken fiel aus der Wand irgendwo vor ihm auf die Steinfliesen des Bodens.
Muffig war es hier, wie von Feuchtigkeit, die im Mauerwerk und unter den Bohlen der niedrigen Decke lauerte.
Kalt war es hier, und klamme Luft legte sich schwer auf Alfreds Brust.
Die alte Dame schloss hinter ihm die Tür ab; jedenfalls deutete er so die Geräusche, die er in seinem Rücken hörte. Dann glomm ein kleines Licht auf, eine Sparbirne in einer Stehlampe mit einem hellbraunen Schirm im Blumenmuster. Rechts von Alfred bauchte sich die Wand zu einer kleinen Rezeption mit einer Theke und einem Sofa davor aus, auf dem etliche übereinandergetürmte Sitzkissen lagen. Neben der Theke hing ein riesiges Schlüsselbrett mit mindestens – Alfred zählte fast zwanghaft nach – vierzig Haken, die fast allesamt leer waren. Die alte Dame nahm einen der wenigen Schlüssel, die daran hingen, ab – ein uraltes Modell, wie sie vor Einführung der BKS-Schlösser üblich gewesen waren – und sagte zu ihm: „Kommen Sie bitte hier entlang.“
Der Lichtbalken, den er zuvor bemerkt hatte, fiel durch den Fensterschlitz eines Aufzuges. Als die alte Dame die Tür öffnete, ertönte wieder das schmatzende und asthmatische Geräusch, das Alfred bereits von draußen leise gehört hatte.
Sie fuhren in den zweiten Stock. Die Dame öffnete ihm die Aufzugstür und zeigte einen Gang entlang, der sich zu beiden Seiten in der Finsternis verlor; nur eine Lampe auf einem Biedermeiertischchen ungefähr in der Mitte des breiten Korridors spendete schüchternes Licht. Als Alfred der Dame folgte, knarrten die Dielen unter seinen Schuhen, während seine Führerin ihnen kaum einen Laut abforderte; sie musste sehr leicht sein. Überdies hatte Alfred den Eindruck, sich auf einem Schiff zu befinden; der Boden hob und senkte sich, fast wie unter Wellengang.
Der Korridor endete in einer Tür, welche die Dame trotz der furchtbar schlechten Lichtverhältnisse ohne die geringsten Schwierigkeiten aufschloss. Sie schaltete das Licht in dem Zimmer ein, trat zurück in den Korridor und sagte: „Ich hoffe, es ist Ihnen recht so. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
Alfred betrat das Zimmer, war ganz geblendet von der plötzlichen Helligkeit, drehte sich um und wollte der Dame danken, doch schon war sie verschwunden. Nicht das geringste Knarren der Dielen hatte ihr Weggehen verraten. Alfred zog den Schlüssel ab, schloss die Tür und verriegelte sie von innen.
     
     
Ja, es knarrt; ja, der Boden scheint sich in allen Zimmern verworfen zu haben, und auch die Treppen – es gibt zwei – sind nach allen möglichen Richtungen geneigt. Doch ob die Dame wirklich so leise zu gehen vermag, weiß ich nicht. Ich habe nicht darauf geachtet, nicht so wie Alfred. Der Aufzug stammt wohl aus den sechziger Jahren,
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