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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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eingedeckt.
Und niemand war zu sehen.
Die Brötchen waren knusprig, die Marmelade war frisch, der Kaffee heiß und stark; alles war von ausgezeichneter Qualität.
Während er aß, sah er sich um. Hier schienen Blumenliebhaber am Werk zu sein: Auf allen Fensterbänken standen riesige Töpfe mit Pflanzen, die Alfred nicht kannte, die aber ungeheuer gesund, kräftig, strotzend aussahen und fleischige, dicke Blüten ausgetrieben hatten. Er hatte keine Ahnung von Botanik, konnte nur sagen, ob ihm eine Pflanze gefiel oder nicht, aber bei diesen prächtigen Exemplaren hier war er sich ganz und gar nicht sicher. Sie verdeckten die untere Hälfte der gewaltigen, mehr als mannshohen Fenster, hinter denen der Wald hereinlugte, und schienen ihn anzustarren. Bald konnte ihn auch die hervorragende Mahlzeit nicht mehr glücklich stimmen. Als er fertig war, ging er mit sehr schnellen Schritten aus dem Frühstückssaal.
Frau Lilienthal, die Wirtin, hatte er nicht gesehen, und auch nicht mehr die alte Dame mit der wunderlichen hohen Frisur. Das ganze Haus schien ausgestorben zu sein. Als er in dem Stockwerk, in dem sein Zimmer lag, aus dem Aufzug trat und nach rechts und links in die sich zusammenballenden Finsternisse jenseits der einsamen, wieder brennenden Lampe schaute, packte ihn das Verlangen, sich ein wenig umzusehen.
Vorsichtig schritt er den welligen, knarrenden Flur entlang, dessen Wände mit einer dunklen, eleganten Blumenmustertapete beklebt waren und von dem etliche Türen in blendend weißen, fein kannelierten Rahmen abzweigten. Doch es gab auch Rahmen ohne Türen, nur mit Tapete darin. Und überall liefen Rohre an den Wänden entlang, weiß gestrichen wie die Türrahmen, manchmal so dick, dass ein Kind hindurchpassen musste, manchmal in geradem Verlauf von der Decke zum Boden, manchmal auch kreuz und quer sich verirrend. Heizungsrohre, dachte Alfred, für dieses riesige Haus müssen sie sicherlich sehr groß sein. Einmal blieb er stehen und lauschte. Er glaubte, etwas gehört zu haben, doch alles war ungeheuer still. Hier, im Innern des Hauses, wohin das Tageslicht nur durch die entfernten Fenster der beiden Treppenhäuser drang, kam er sich vor wie in einer Höhle, abgeschnitten von der Außenwelt, Fremder in einer ihm unverständlichen Innenwelt. Dann hielt er das Ohr an eines der Rohre.
Und schreckte zurück.
     
     
Diese Rohre. Ich habe den Eindruck, dass sie überall sind. Ich laufe durch den langen, auch bei Tage dunklen Korridor mit seinen hohen Decken, den ächzenden Dielen, den vielen verschlossenen Türen – ich traue mich nicht, ihre Klinken herunterzudrücken, obwohl ich der einzige Gast zu sein scheine; zumindest frühstücke ich allein in diesem blumenverseuchten Speisesaal – und lausche. Zuerst habe ich geglaubt, ich hätte es mir nur eingebildet. Es ist eindeutig nicht das Rauschen von Wasser. Es sind andere Geräusche. Sie erzeugen in mir Bilder von sich windenden, träge verdauenden Kreaturen, nicht Tier, nicht Pflanze; leises Schaben und Schmatzen und Laute, die entfernt an ein Ächzen, ein Jammern oder ein giervolles Jaulen erinnern, doch ungeheuer gedämpft, wie auf Flaumfedern daherkommend. Ich schrecke zurück.
     
     
Alfred verließ das Haus. Draußen, in dem kleinen Garten, sah er sich um. Dunstschwaden, Nebelschlieren trieben durch den Wald, klebten an den Ästen, von denen es leise tropfte. Das war das einzige Geräusch. Kein Vogel sang, kein Lärm des nahen Städtchens war zu hören. Alfred ging die kleine Auffahrt hoch, die zu dem asphaltierten Waldweg führte, und wollte einen Spaziergang machen.
Schon nach wenigen Schritten war er so nass, als ob er durch strömenden Regen gelaufen wäre. Dabei war es nur der Nebel.
Und er fand den Waldweg nicht.
Bald war er vollständig vom Nebel eingehüllt, stand wie in einer Wolke, wie in undurchdringlichem Dampf, in dem Odem ungeheurer Pflanzen, der alles verschlang, Welt und Blick. Alfred blieb stehen. Es war tatsächlich wie ein Anhauchen, und neben dem steten Tropfen glaubte er verhaltenes Atemholen zu hören.
Er sah nichts mehr; es war, als hätte sich ein Grauschleier über seine Pupillen gelegt. Er traute sich nicht mehr weiterzugehen und kehrte um. Vorsichtig ertastete er sich einen Schritt nach dem anderen, bis endlich eine Hausecke aus dem Dunst auf ihn zuschwamm. Er wurde schneller und stand bald wieder vor der Eingangstür. Da sah er das Fenster rechts daneben.
Und er sah die gewaltigsten Feuerlilien – waren es solche, waren es
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