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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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Fenster mit einem riesigen Blumentopf auf der tiefen Marmorbank, und am nächsten Tag war es die oben beschriebene Tapete. Welcher Tag ging welchem voraus? War zuerst das Fenster da – oder die Tapete? Oder etwa beides gleichzeitig?
Der Nebel hingegen ist da. Schon sehr lange. Durch ihn hindurch habe ich von meinem abschüssigen Balkon aus das rötliche Glimmen wiedergesehen. Es zwinkert, blinzelt, vielleicht bewegen sich Äste vor ihm, die im Nebel unsichtbar sind. Dieser Nebel macht mich noch verrückt. Es scheint mir, als wäre er schon vor Tagen aufgezogen, oder vor Wochen. Er fesselt mich an das Haus, nimmt mir die Luft zum Atmen, wirft mich ganz auf mich selbst zurück. Ich durchwandere das Haus, das einsame Haus. Manchmal ist mir, als hörte ich Schritte. Es wird die alte Dame sein. Frau Lilienthal habe ich bis heute nicht gesehen; ich  zweifle inzwischen an ihrer Existenz.
Jeden Morgen gibt es ein hervorragendes Frühstück, wie am ersten Morgen, und immer, wenn ich zurück zu meinem Zimmer komme, ist das Bett gemacht, das Bad geputzt, Staub gewischt. Keine Fluse stört das Bild.
Und nichts deutet darauf, dass ich dieses Zimmer bewohne. Meine wenigen Habseligkeiten habe ich im Schrank verstaut, und erst wenn ich ihn öffne, kann ich mir sicher sein, mich in meinem Zimmer zu befinden.
Ich mag es so.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Rohre Zuwachs bekommen haben.
     
     
Er musste das Haus verlassen, sonst würde er verrückt. Wie hatte er sich derart irren können? Wie hatte er eine Tapete nicht von echten, lebendigen Blumen unterscheiden können? Es war die Atmosphäre dieses Hauses, die ihm den Verstand verwirrte.
Er nahm den Aufzug, fuhr ins Untergeschoss, bemühte sich – vergeblich –, nicht zu den Feuerlilien hinüberzusehen, die ihm die Blumenrücken zukehrten, und floh hinaus in den erstickenden Nebel.
Die Auffahrt, die hinter dem Haus zu dem asphaltierten Waldweg führte, war nicht mehr da. Nur der kleine, abschüssige Garten vor der Eingangstür ließ sich noch erahnen. Alfred ging einige Schritte in ihn hinein – und sah wieder das rötliche Glimmen im Nebel weit vor sich. Es war unmöglich zu sagen, ob es von einem Ort ausging, der sich noch auf dem Grundstück befand.
Die geborstenen Steinplatten, die den Garten hinunter führten, schienen einen Weg zu diesem Licht zu bahnen. Stets waren einige Platten vor und nach ihm zu sehen; alles andere war eine graue Mauer, die sich über ihm wölbte wie die Decke einer Höhle. Immer wieder sah er das Licht vor ihm aufzwinkern; es schien ihn zu locken.
Bald schälte sich ein Umriss aus dem Nebel. Zuerst war es nichts als ein Spitzdach, das in der Luft schwebte, dann bildeten sich die Wände von oben herunter, bis sie das tropfende Gras erreicht hatten. Es war ein großes, hölzernes Gartenhaus, durch dessen Fenster das rötliche Licht fiel – wie ein einzelnes, blutunterlaufenes Auge.
Rechts neben Alfred drang etwas aus dem Rasen und führte auf das Haus zu. Eine Nebelschlange. Noch eine. Grauverschliert, grünbemoost. Und noch eine. Sie schienen aus allen Richtungen auf das Gartenhaus zuzulaufen. Es waren Rohre – Rohre wie im Haus; vielleicht kamen sie von dort.
Natürlich! Hier war die Heizung des Gebäudes untergebracht, und das rote Auge war nichts anderes als eine Kontrolllampe. Alfred lachte auf. Sogar für ihn klang es gezwungen.
Wenn es wirklich so war, dann musste es eine gewaltige Kontrolllampe sein, denn das ganze Fenster war von dem rötlichen Schimmer behaucht.
Das Gartenhaus war alt und windschief, aber die Tür darin, zu der einige brüchige Stufen hochführten, war ganz neu und wirkte sehr stabil. Vorsichtig ging Alfred bis an die Vorderwand mit der Tür und dem Fenster darin und legte das Ohr an das feuchte Holz.
Ganz schwach hörte er die gleichen Geräusche wie in den Rohren. Das war kein Wasserrauschen, das war auch kein Heizungsbrenner, das war überhaupt nichts Technisches. Kurz überlegte er, ob er es wagen sollte, einen Blick durch das Fenster zu werfen, das sehr hoch in der Wand angebracht war und von einer dichten Gardine verdeckt wurde, doch er entschied sich dagegen. Nirgendwo sah er einen Stein oder etwas anderes, worauf er sich hätte stellen können, und überdies wollte er gar nicht wissen, was sich in diesem Gartenhaus befand. 
Er lief, bis die Rohre allesamt im Erdboden verschwunden waren und nur noch die Steinplatten ihn zum Eingang des Hauses zurückführten.
     
     
Das Gartenhaus existiert; ich habe es
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