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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas
Autoren: Michael Siefener
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riss die Augen auf; sein engelgleiches Lächeln gerann zu einem toten Grinsen. Das Stilett polterte zu Boden, und die Fahrradkette gesellte sich dazu. Drei der Burschen rannten mit zitternden Beinen davon; der Anführer schien zuerst nicht zu begreifen. Dann verzerrte er das Gesicht; der verräterische Himmel in seinen Zügen wich der Hölle, und er setzte seinen Kumpanen nach.
Miriam blieb reglos stehen, bis die Schritte der vier Jugendlichen verhallt waren. Dann ging sie langsam und dicht an den Mauern entlang zurück zu ihrem Haus, dessen Tür noch offen stand. Sie drehte sich kurz um und verschwand im Maul des Gebäudes.
Mit der Telefonkarte ging es sehr leicht. Ein kleiner Druck gegen die Zunge des Schlosses, und die Tür sprang auf. Drinnen ging Miriam vorsichtig ins Wohnzimmer, ließ sich schwer auf die Couch fallen und nahm die Maske ab.
Es graute ihr immer ein wenig, wenn sie diese Maske anschaute, bevor sie sie weglegte. Es war eine Art weißer Plastikschale ohne Öffnungen für Mund und Nase. Die Atemluft bekam Miriam nur durch kleine Schlitze am Hals – die Maske reichte bis beinahe auf die Schulter. Um die Schlitze hatte sie rote Kreuze gemalt, damit dort die unheilige Kraft der Vampire nicht eindringen konnte. Und die notwendigen Augenlöcher hatte Miriam mit runden Spiegelglasstücken versehen, so dass sie zwar hinausschauen, aber niemand ihr direkt in die Augen blicken konnte, was die Gefahr wenigstens ein bisschen bannte. Die kreisrunden Spiegelglasstücke befanden sich in den Schnittpunkten zweiter roter Kreuze, die beinahe die gesamte Wangenpartie einnahmen. Von hinten war die Maske nicht zu erkennen; da sah man nur die schönen, welligen braunen Haare, die bis beinahe zur Hüfte reichten. Miriam hatte sich ihrer Verfolger schon mehrfach erwehren können, indem sie sich einfach umgedreht hatte. Sie legte die Maske zurück in die Box, die sie dafür angefertigt hatte, und stellte diese in den kleinen Wandschrank in der Diele. Dann legte sie sich zu Bett und hatte ihre üblichen Alpträume von Vampiren und anderen Saugern.
Am nächsten Tag musste Miriam feststellen, dass sie keine Vorräte mehr im Haus hatte. Sie rief den üblichen Lieferservice an, vereinbarte den üblichen Termin – zwölf Uhr mittags –, legte rasch das abgezählte Geld nebst einem recht großen Trinkgeld vor ihre Tür, als der Bote schellte, beobachtete durch den Spion den kleinen Türken, wie er den Einkauf vor ihrer Wohnung abstellte, rasch das Geld nahm, einen fragenden Blick auf ihre Tür warf und wieder verschwand. Als Miriam hörte, wie unten die Haustür zuschlug, legte sie ihre Maske an und holte die Lebensmittel herein.
Auch dieser kleine Türke war ein Vampir.
Sie waren überall, sie hielten sich nicht daran, dass sie eigentlich nur nachts aktiv sein durften, kaum etwas stimmte an den alten Überlieferungen. Vielleicht lag es daran, dass sie inzwischen so sehr in der Überzahl waren. Miriam fragte sich oft, ob es überhaupt noch normale Menschen wie sie gab.
Als sie in der Küche die Lebensmittel auspackte, hörte sie ein schabendes Geräusch von der Wohnungstür her. Sie wirbelte herum. Dem Schaben folgte ein Knirschen und Bersten. Miriam schlug sofort die Küchentür zu und drehte den Schlüssel um.
Sie waren hier. Sie hatten sie entdeckt. Miriam wusste, wer es war. Die Küchentür flog unter einem einzigen Tritt aus dem Rahmen. Der junge Mann mit dem blonden Haar und dem Engelgesicht stand auf der Schwelle.
„Wie wunderbar, dass wir uns endlich wiedersehen, meine Gute. Es hat mich einige Zeit gekostet, deine Höhle zu finden. Es war mühsam, in der Tat. Doch mich erschreckt man nicht ungestraft“, sagte er sanft und kalt. „Es freut mich, dass du deine Maske nicht anhast. Wie ätherisch schön du bist. Das habe ich mir genau so vorgestellt, den ganzen Tag lang.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Mit zwei Schritten war er bei ihr. Sie spürte, wie sich seine Blicke durch ihren Kopf bohrten. Sie fühlte die Kraft aus sich heraussickern. „Du hast geglaubt, du kannst uns mit deinem hübschen Spielzeug in die Flucht schlagen“, sagte er. „Was meine Gefährten angeht, so ist es dir gelungen. Nicht aber bei mir.“ Er schlang die Arme um sie. Sie bekam keine Luft mehr. Das Blut kochte in den Adern. Gleich würde es fließen. Er senkte den Kopf in ihre Schulterbeuge und murmelte: „Deine Seele gehört mir.“ - - -
Als sie wieder hochkam, war ihr übel. Alle Kraft schien von ihr gewichen. Sie
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