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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut
Autoren: Uta Maier
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Spätsommertag Mitte September. Damals war ich gerade elf Jahre alt gewesen. Unnütz zu sagen, dass ich die Worte des Priesters noch nicht verstand, unnütz zu sagen, dass ich sie heute immer noch nicht verstehe. Jeder Besuch am Grab meines Bruders hätte folglich leichter werden sollen, nein, werden müssen. Aber das wurde er nie. Immer noch fühlte es sich so an, als würde meine Seele ans Kreuz geschlagen, wenn ich die wenigen Meter von den Friedhofstoren bis zu den Kindergräbern ging. Gottesfinsternis. Halbseelenträger.
    Ich schob meine Kapuze langsam nach hinten, ein stummer Salut, hier brauchte ich sie ganz sicher nicht. Spiegel gab es keine, und die wispernden Linden über mir waren wie ein tröstlicher Schutz. Es gab so viele Dinge, die ich Finan jetzt sagen könnte, aber nur zwei Worte, die ich wirklich sagen wollte: Verzeih mir ! Ich kam nicht oft hierher, einmal im Jahr, um es auf den Punkt zu bringen, und jedes Mal wusste ich, dass er mir niemals wieder zuhören würde.
    Ich schwieg, wischte ein bisschen Staub und Erde von der Grabplatte, und zeichnete die sonnenwarmen Buchstaben nach, als würde ich meinen Bruder in der Ewigkeit berühren. Finan Lavie.
    »Herzlichen Glückwunsch«, flüsterte ich und stellte die schwarze Schachtel, die ich mit der linken Hand schon seit einer Stunde umklammert hielt, auf die Platte vor mir ab. »Ein Geschenk für dich. Von Papa.« Es klang selbst in meinen Ohren grotesk, wie ich das Wort Papa aussprach, ein wenig französisch und ein wenig zu tiefgründig, so als hätte ich ihn gekannt und geliebt. Dabei war weder Finan noch mir eine wirkliche Erinnerung an unsere Eltern geblieben. Da war nur noch ein vager Duft von Sandelholz an meinem Haar, ein liebevolles Streicheln auf der bettwarmen Haut, ein Luftzug, der durch ein geöffnetes Fenster die Nacht und die Sterne hereintrug.
    Ein Geschenk von unserem Vater, nur an Finan, nicht an mich. Das fiese Stechen in meiner Brust verriet, dass es mir nicht egal war. Aber auf einen Toten eifersüchtig zu sein, noch dazu auf Finan … War es ein Geschenk, wie es Väter nur ihren Söhnen machen können?
    »Ich weiß selbst nicht, was es ist«, sagte ich laut, als könnte Finan mich hören. »Der Notar hat es mir geschickt. Papa hat es dort hinterlegt, sollte ihm etwas passieren, bevor du volljährig bist. Na ja, okay, in Schottland wärst du das ja schon mit sechzehn geworden, aber Papa war mit Leib und Seele Franzose, ganz der eitle Charmeur … wie Eloi immer sagt.«
    Mehrere Minuten betrachtete ich die schwarze Box auf der quadratischen Grabplatte. Ich hatte Eloi damals bekniet, die marmorne Engelsskulptur für Finans Grab zu kaufen, doch wir konnten sie uns nicht leisten. »Engel, die stillen Mittler zwischen Himmel und Erde«, hatte Eloi abends andächtig geflüstert. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst gewesen, dass er überhaupt an eine Zwischeninstanz der Schöpfung glaubte. Und wie immer führte ich es auf seinen Alkoholpegel zurück. Finan hatte Engel geliebt. Er konnte sie sogar sehen, vor seinem inneren Auge, und beschrieb sie mir in allen Facetten. Mehr als einmal zeichnete ich sie heimlich nach. Und mehr als einmal hatte ich aus Eifersucht auf seine blühende Fantasie das Bild anschließend zerknüllt.
    Ich schob die Erinnerung weit weg und fingerte umständlich an dem kleinen Häkchen herum, mit dem die Schachtel verschlossen war. Eine ganz normale, schwarze Pappschachtel, wie man sie in jeder handelsüblichen Papeterie bekommen konnte. Meine Neugier machte mich ungeschickt. Ich fluchte und bekam gar nicht mit, dass ich es geschafft hatte – erst als mir ein Oval entgegenpurzelte und mit einem leisen Pling auf der Steinplatte landete. Ein einzelner Lichtstrahl mogelte sich durch das Blätterdach der Linde und fiel genau auf die Oberfläche und ließ sie aufblitzen. Ich keuchte auf, schloss instinktiv die Augen und hob die Hände schützend vor mein Gesicht, als erwartete ich eine Ohrfeige von Eloi.
    Nein, das kann nicht sein! Eine alte, eiskalte Angst krampfte mein Herz zusammen. Unsinn! Ich blinzelte vorsichtig und stieß erleichtert Luft aus. Es ist nur ein Spiegel an einem Band, beruhige dich! Er liegt nicht im richtigen Winkel, du wirst dich darin nicht sehen!
    Ich atmete tief durch. Im Spiegel reflektierte sich ein Fetzen Himmel inmitten grüner Blätter, sonst nichts. Trotzdem zitterten meine Hände, als hätte ich ein Gespenst gesehen. Eines aus der Vergangenheit , dachte ich bitter. Das Medaillon
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