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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut
Autoren: Uta Maier
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fand meine eigene Verblüffung in seinen Augen. Irritiert schüttelte ich den Kopf und erschrak, als er meine stumme Körpersprache teilte. Ich setzte mich ruckartig auf und lehnte mich an den Sitz. Er tat dasselbe, allerdings nicht zeitlich versetzt, sondern zeitgleich wie ein … ja, wie ein Spiegel.
    Teufelsding!
    Er machte mir Angst! War er ein Vampir? Aber es war noch nicht dunkel. Unmöglich!
    Schweiß drängte sich aus all meinen Poren, und ich stieß ungeduldig Luft durch die Nase aus. Ich nahm mir fest vor, bei der nächsten Station auszusteigen, obwohl ich vier weitere vor mir hatte. Ich könnte laufen. Niemand wartete auf mich. Demonstrativ starrte ich in die entgegengesetzte Richtung.
    Ich weiß nicht, wieso ich dennoch sitzen blieb und wieder anfing, die Karos zu zählen, als litt ich unter einer dämlichen neurotischen Zwangsstörung. Ab und zu versuchte ich, einen verstohlenen Blick auf ihn zu erhaschen, aber jedes Mal kniff ich im letzten Moment die Augen zusammen. Mein dunkelgraues Lieblingssweatshirt klebte zwei Stationen später an meinem Rücken fest. Ich rieb den Schweiß meiner Handflächen unauffällig an meiner abgeschnittenen Jeans ab und sah bewusst auf den Boden. Die gleichartige Bewegung am anderen Ende des Gangs entging mir trotzdem nicht, ich fühlte sie mehr, als dass ich sie sah.
    Bei der dritten Station gab ich meiner inneren Spannung nach und sprang förmlich aus dem Waggon. Ohne mich umzusehen, hechtete ich über die Plattform, stob die Stufen hinauf und rammte dabei fast eine Mutter mit Kinderwagen. Ich ignorierte ihre wüsten Beschimpfungen und wurde erst ruhiger, als ich das Tageslicht erreichte. Gehetzt sah ich mich um, aber der Kapuzentyp blieb verschwunden. Dennoch rannte ich ein paar Straßen weiter, bevor ich wieder etwas langsamer ging. Ich irrte durch die Stadt, ohne ein Ziel zu haben, und kam mir vor wie eine Geistesgestörte, so sehr rasten die Gedanken in meinem Kopf. Finan, Papa, das Medaillon, Lester, der Kapuzenträger …
    Ich verzog mich in eine abgelegene Ecke, fingerte mein iPad im Stehen heraus, klappte es auf und tippte genau fünf Wörter:
Coco: Bleib in Kirklee, ich komme!
    Meine Hände zitterten. Ich schob mir die In-Ear-Stöpsel in die Ohren und verband sie mit meinem iPad. Dann klickte ich auf Puccinis Turandot, verstaute das iPad in der Tasche und beruhigte mich ein wenig mit den Operngesängen. Als ich auf den stillgelegten Gleisen der Kirklee-Terrassen stand, pochte mein Herz vor Aufregung und Verwirrung. Die verlassenen Eisenbahnstränge wirkten im Dämmerlicht nicht besonders einladend. Unkraut griff wie mit dürren Fingern über die mageren Reste der Schienen, Gestrüpp wucherte zu undurchsichtigen Wäldchen zusammen. Manchmal verirrten sich Touristen nach Kirklee, doch heute lag die Strecke fast totenstill in Einsamkeit gebettet vor mir. Ein einzelner Vogel zwitscherte in der Nähe des alten Tunnels.
    Meine Hände krallten sich fester um meine Tasche, als ich auf den Eingang des Tunnels zulief. Eigentlich hatte ich gehofft, Lester würde auf den Terrassen warten, aber nein, Vampire fand er ja nur im Zwielicht. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in dem Tunnelsystem auf die Lauer legte. Wenn ich eines ebenso fürchtete wie mein Spiegelbild, dann war es die absolute Finsternis, das Gefühl, blind zu sein. Widerwillig zog ich einen meiner Ohrstöpsel heraus. Der Tunneleingang glich einem Schlund, das rostige Absperrgatter sah aus wie eine Reihe stumpfer Zähne.
    »Lester?« Mein Ruf flüchtete an den Wänden des Tunnels entlang ins Nirgendwo. Ich wartete einen Moment, spähte in das Dunkel vor mir. Ich wusste nicht, wie lang dieser Tunnel war. Manche endeten schon nach 200 Metern, andere erst nach zwei Kilometern. Ich presste mich wie eine Gefangene an die Gitterstäbe, um besser sehen zu können.
    Jemand lehnte im hinteren Teil an der Wand, kurz bevor der Tunnel eine sanfte Linkskurve zog.
    »Lester, bist du das?« Keine Antwort. Etwas an der Gestalt irritierte mich. Nicht die Regungslosigkeit oder die Tatsache, dass sie nicht antwortete. Es war das blaue Schimmern im Brustbereich. Blink-Blink-Blink. Wie ein Signalhorn, nur lautlos und unheimlich, ein Herz aus blau gefrorenem Eis.
    Meine Augen erfassten die Konturen, ein junger Mann, etwa so alt wie mein Onkel, Anfang dreißig. Ich sollte umkehren, er stand so still. Doch das Licht zog mich magisch an. Mit einem Schritt auf die Querstange des Gatters und einem weiteren über die Latten schwang
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