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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut
Autoren: Uta Maier
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1. Kapitel
    »Drei Dinge überleben den Tod:
Es ist der Mut, es ist die Erinnerung
und es ist die Liebe.«
    ANN MORROW LINDBERGH
    Warum sie mir gerade jetzt in den Sinn kamen, sollte ich erst sehr viel später erfahren. Ich stand vor der schmiedeeisernen Pforte des Friedhofs, die Lilien für das Grab meines Bruders in der einen, die mysteriöse Schachtel – deren Inhalt ich nicht kannte – in der anderen Hand.
    Die schaurigen Geschichten über sie hatte ich schon gehört, lange bevor ich schreiben lernte. Für mich waren die beiden ein Mythos. Zwei Kreaturen der Nacht, Vampire, die nur eine einzige Seele besaßen. Schön seien sie, hatte Onkel Eloi stets gesagt: bleiche Prinzen mit schwarzem Haar und Augen so dunkel wie eine Gottesfinsternis. Vielleicht musste ich deswegen jetzt an sie denken. Das Wort Gottesfinsternis passte exakt zu dem Gefühl, das jedes Mal mein Herz betäubte, wenn ich über die Schwelle der Friedhofstore trat. Das Schlimmste aber sei nicht der Blick, sondern die Aura eines Halbseelenträgers. Sie sei wie der Albtraum, den wir alle kennen, der Albtraum, in dem wir ungesehen ersticken und jeder um uns herum atmet. In ihrer Gegenwart würde die Luft still und schwer wie vor einem hereinbrechenden Gewitter.
    Eloi sagte, es gäbe immer nur zwei Vampire mit halber Seele in jeder Generation. Ein Verrat oder ein gebrochenes Versprechen sei die Ursache, warum der Himmel ihnen diesen Fluch auferlegt hatte. Ich glaube, die Halbseelenträger waren selbst für die Dämonenjäger schwer erklärbar. Dämonenjäger, die sich heute Lichtträger nannten, weil sie mit funkelnden Diamantspeeren auf die Jagd gingen, vielleicht eine vorübergehende, exklusive Modeerscheinung, die bald wieder von etwas anderem abgelöst wurde. Der Kreis des einzigen Lichtträgers, den ich kannte, war längst zerschlagen, mein Onkel Eloi einem weiteren Dämon ausgeliefert, den er in kleinen Flachmännern bei sich trug: Alkohol. Und da er immer nur von der Dämonenjagd, den Lichtträgern mit ihren Diamantspeeren und den beiden Halbseelen sprach, wenn er genügend Whisky intus hatte, geriet ihre Existenz manchmal stärker ins Wanken als er selbst.
    Seine Alkoholsucht hatte nicht erst mit dem Tod meines Zwillingsbruders begonnen, aber sie war bedrängender geworden. In letzter Zeit konnte ich in unserer Wohnung kaum mehr atmen, als wäre für Eloi und mich nicht genug Platz. Immer öfter floh ich tagsüber auf Glasgows Straßen, trieb mich herum, nur um nicht seiner Aggression ausgesetzt zu sein, die nach der ersten Flasche Whisky mit fast beunruhigender Regelmäßigkeit einsetzte. Nach Hause kam ich erst, wenn er schlief oder so betrunken war, dass ich ihn nur noch ins Bett legen musste. Ich hatte gelernt, damit zu leben. Mit dreizehn wusste ich bereits an der Art, wie er mir das Gesicht zuwandte, welcher Stimmung er war. Wenige Zeit später wusste ich, was er dachte, noch ehe sich der Gedanke in ihm geformt hatte. Ich konnte an der Art, wie er die Wohnung betrat, sagen, wie viel und was er trinken würde, ob er mich schlagen würde und mit was – bestenfalls mit der flachen Hand. Reiner Selbstschutz hatte mich geschulmeistert. Aber es gab nicht nur schlechte Tage. Manchmal rührte er eine Woche lang keinen Alkohol an, dann sagte er immer »Puce, tout ira bien!« – Floh, alles wird gut – und ich hatte ihm das lange Zeit immer wieder aufs Neue geglaubt. An diesen Tagen ging er mit mir ins Kino, der Kühlschrank wurde gefüllt, die Wohnung geputzt und er fragte mich Vokabeln ab.
    Vor genau einem Monat war ich ausgezogen. Ich hatte von Co-Abhängigkeit gelesen, und nachdem Eloi von seinem Bewährungshelfer vor zwei Monaten zu einem Entzug verdonnert worden war, nahm ich mir das Sonntagsblatt mit den Wohnungsanzeigen vor. Jetzt besaß ich mein eigenes Reich, zwei winzige Zimmer im Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses, nichts erwähnenswert Hübsches, aber ganz allein meins. Ich war bereit für ein neues Leben. Der Friedhofsbesuch entsprang mehr meinem Pflichtgefühl. Finan war nicht hier. Sein Körper, ja, aber nicht seine Seele.
    Der Kies knirschte unter meinen Füßen, als ich durch die Gräberreihen ging. »Der schwerste Gang eines Menschen ist der zu einem offenen Grab.« Dieser Satz des Pfarrers bei der Beerdigung meines Zwillingsbruders ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Ich kniete mich vor seine letzte Ruhestätte und musste daran denken, wie Onkel Eloi und ich ihn hier in Glasgow beerdigt hatten, an diesem lauen
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