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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut
Autoren: Uta Maier
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Platanenallee hinter mir ließ und durch das Haupttor ging, fiel mir der andere Satz aus der Trauerrede des Pfarrers ein. Er hatte sich ebenso wie der erste tief in mir verwurzelt: »Die schwerste Pflicht eines Menschen ist es, Abschied zu nehmen.«
    Finan war keine zwei Meter entfernt von mir gestorben, hinter einem Spiegelglas dieses verdammten Labyrinthes, in das er nur mir zuliebe mitgegangen war. Ich konnte nicht Abschied nehmen, solange die Schuld so tief an meinem Herzen fraß. Ich war schuld! Ich hätte seine Hand halten müssen. Ich schüttelte den Kopf und blieb stehen.
    Schluss damit! Heute ist dein achtzehnter Geburtstag. Du bist frei. Begrabe die Vergangenheit.
    Ein neuer Anfang. Gestern hatte ich mir auf meinem iPad die Nummer einer Psychologin herausgesucht. Sie würde es schwer mit mir haben, aber ich konnte nicht ewig vor mir selbst davonlaufen. Ich nickte, wie um meinen spontanen Entschluss zu bekräftigen. Dann wirbelte ich herum, schoss mit einer so nicht gekannten Leichtigkeit zurück über den Kies, die dünnen Sohlen meiner Ballerinas spritzten Steine auf die Beete. Vor Finans Grab fiel ich wieder auf die Knie, umschloss das Amulett mit schwitzigen Fingern, fast stolz, als hätte ich es mir in einem Wettstreit hart erkämpft. Nur hinein sah ich nicht. Das hob ich mir für später auf. »Es tut mir leid, Finan, ich denke, du brauchst es nicht. Ich aber schon. Es könnte ein Anfang sein.« Und ganz leise: »Ich liebe dich.«
    Den Weg zur Pforte ging ich mit hoch erhobenem Kopf und sprach unser Zwillingsgedicht vor mich hin. Es handelte von unserer Verbundenheit, dem Gefühl, eins zu sein.
    »Du kannst mich nicht sehen,
aber dennoch bin ich hier.
Du kannst nicht fliehen,
du bist ein Teil von mir.«
    Ich sprang auf die Friedhofsmauer, etwas, das ich in all den Jahren noch nie getan hatte. Nicht weil ich mich stets an Konventionen hielt, mir war an diesem Ort bloß nie danach gewesen. Das Amulett lag fest in meiner Faust, nur das feine Goldkettchen zwängte sich durch meine Finger wie ein dünner Drachenschwanz. Von hier oben schien meine Trauer kleiner, der Himmel ein Stück näher. Ich balancierte auf dem schmalen Stein, als wäre es meine persönliche Gratwanderung zwischen Normalität und Wahnsinn, ein Zeichen für all die weiteren Schritte, die ich setzen wollte. Zeichen waren wichtig, das wusste ich nicht nur aus den Erzählungen eines betrunkenen Lichtträgers, dessen vermeintliches Stirnsiegel mittlerweile so verblichen war wie Halbmondlicht. Als die Bilder kamen, war ich vorbereitet. Ich kannte sie besser als mein Spiegelbild, aber das war keine Kunst: Gesplittertes Glas, messerscharf wie Dolche, überall Blut in diesem verfluchten Spiegellabyrinth, Finans Blut, das meine Fingerkuppen aufweichte und die Haare meines Hinterkopfes kupfern färbte. Es breitete sich aus wie ein Ölteppich auf stillem Gewässer. Der Mann, der sich über mich senkte, atmete nicht, nicht einmal, als er sprach. Kein Atem, nur Kälte. Im letzten noch senkrecht stehenden Spiegel zwischen Finan und mir konnte ich ihn nicht sehen. Seine Kälte deckte mich zu, als wollte er mich damit ersticken. »Es ist wieder Frühling«, hatte er geflüstert, mit einer Stimme, die viel zu jung für Grausamkeit klang, und Finans Blut vom Boden geleckt. »Ein Strauß Blumen. Honig und Hyazinthen. Ich hatte es fast vergessen.«
    Perverser Idiot! Solltest du mir jemals wieder über den Weg laufen, schmiere ich dir Honig ums Maul, um es dir anschließend mit einem Strauß Blumen zu stopfen.
    Niemand hatte mir diese Geschichte geglaubt. Posttraumatische Belastungsstörung, sagten sie in der Kinderpsychiatrie, und ich hörte auf, darüber zu sprechen. Mit den Dämonen und mir verhielt es sich seitdem wie für manche Menschen mit dem Tod. Obwohl ich die Wahrheit tief in mir anerkannte, leugnete ich sie, wann immer ich konnte. War Eloi nüchtern, war meine Welt in Ordnung und die Dämonen blieben hinter den Spiegeln. War er betrunken, entließ er sie aus seinen Erinnerungen, und ich spürte ihre Klauen alte Wunden reißen. Deswegen, hauptsächlich deswegen, war ich gegangen.
    Heute ließen die schaurigen Bilder mich nicht mit ohnmächtiger Angst zurück, sondern mit Zorn! Er fühlte sich seltsam an. Neu. Es war kein Anspannen der Kiefermuskeln, kein steigender Puls, keine bebenden Hände.
    Der Zorn schmeckte nach Eisen und Stahl, wie eine Schwertklinge auf der Zungenspitze, und ich konnte ihn riechen; er roch nach Schmiede und Feuer,
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