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Lily und der Major

Lily und der Major

Titel: Lily und der Major
Autoren: Linda Lael Miller
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Prolog

    Lincoln, Nebraska
    9. Dezember 1865
    Es schneite heftig, und der kalte Wind pfiff der
sechsjährigen Lily unter die Röcke und biß ihr in die bloße Haut, aber sie
machte sich nicht die Mühe, sich zu bücken, um ihre Strümpfe heraufzuziehen.
Sie war viel zu beschäftigt damit, die kleine Gruppe von Menschen zu
beobachten, die sich auf dem Bahnsteig versammelt hatten und sie und die
anderen Kinder anstarrten, die mit dem Orphan-Train, dem
Waisenkinderzug, auf dem Weg nach Westen waren.
    An Lilys schäbigem Mantel hing ein
Zettel, mit einer Zwei und einer Sieben darauf. Lily wußte, daß diese beiden
Zahlen eine andere ergaben, aber da sie nie eine Schule besucht hatte, wußte
sie nicht, welche das war. Ihre Schwestern hatten es ihr bestimmt gesagt, aber
Lily war zu verwirrt. Es gab so viele andere Dinge, die sie sich unbedingt
merken mußte, wie ihre Schwestern sie immer wieder ermahnt hatten.
    Daß sie Lily Chalmers hieß, daß Emma
und Caroline ihre Schwestern waren. Daß ihr Geburtstag der vierzehnte Mai 1859
war, ihr Geburtsort Chicago, Illinois.
    Lily spürte, wie sich Carolines
Hände auf ihren Schultern verkrampften und richtete sich noch gerader auf. Ihr
Herz begann aufgeregt zu klopfen, als ein großer, wie ein Bär wirkender Mann
vortrat, der einen grauen Wollmantel trug und die kleine Gruppe von Waisen aus
schmalen Augen musterte. Obwohl Emma und Caroline ihre kleine Schwester von dem
Moment an, als der Zug aus Chicago ausgelaufen war, darauf vorbereitet hatten,
daß man sie trennen würde, hatte Lily die Hoffnung nicht aufgegeben, jemand
möge alle drei Schwestern gemeinsam zu sich nehmen.
    Doch der Mann entschied sich für
zwei Jungen, und Lily seufzte, teils erleichtert, teils resigniert. Aus dem
Augenwinkel schaute sie zu Emma herüber und sah eine Träne über die Wange ihrer
Schwester laufen. Emma war sieben und damit – so fand Lily – viel zu alt zum
Weinen. Rasch nahm sie Emmas Hand und drückte sie aufmunternd.
    Da löste sich eine rundliche Frau
aus der Menge, stapfte über die schneebedeckten Stufen auf die Plattform und
ging zu den drei Mädchen, die sich fest umfangen hielten.
    »Die da will ich«, verkündete sie
herrisch, und einen Moment lang empfand Lily ein wildes Triumphgefühl, weil sie
recht behalten hatte und die Frau sie alle nehmen würde. Doch dann merkte Lily,
daß nur die achtjährige Caroline gemeint war.
    Caroline knickste. »Madam, bitte«,
sagte sie flehend, »das sind meine Schwestern, Emma und Lily, beides brave,
starke Mädchen, die arbeiten und kochen können ...« Die Frau schüttelte den
Kopf. »Nur du«, sagte sie.
    Caroline hatte gerade noch Zeit,
ihre Schwestern kurz zu umarmen. Ihre braunen Augen schimmerten feucht, auf
ihrem dunklen Haar glitzerte der Schnee. Lily wußte, daß Caroline – als älteste
und verantwortungsbewußteste der Schwestern – gehofft hatte, erst ganz zum
Schluß ausgewählt zu werden, denn bei ihr war es am wahrscheinlichsten, daß sie
sich an alles erinnern würde und wußte, wo die beiden Jüngeren zu finden waren.
    »Vergeßt nicht, was ich euch gesagt
habe«, mahnte Caroline sanft, als sie sich vor Lily hinhockte und ihre Hände
nahm. »Und wenn ihr euch einsam fühlt, dann singt die Lieder, die Grandma uns
beigebracht hat. Das wird uns einander näherbringen.« Sie küßte Lily auf die
Wange. »Bald werde ich euch wiederfinden, irgendwie«, fügte sie hinzu. »Das
verspreche ich.«
    Dann richtete Caroline sich auf und
wandte sich an Emma. »Sei stark«, sagte sie leise. »Und erinnere dich an alles.
An alles, Emma, bitte!«
    Emma nickte mit Tränen in den Augen.
Mit ihrem rotblonden Haar und den tiefblauen Augen war sie Lilys Ansicht nach
die Hübscheste und konnte auch am schönsten singen.
    Als offensichtlich wurde, daß es
niemanden mehr gab, der noch eines der Kinder mitnehmen wollte, scheuchte der
Zugführer die anderen in den Waggon zurück. Lily weinte nicht wie Emma, aber
dafür steckte ein harter, kalter Klumpen in ihrer Kehle, und das Herz tat ihr
so weh, daß sie Angst hatte, es würde jeden Augenblick zerspringen.
    »Komm, wir singen was«, sagte Emma
tapfer, als ihre Tränen versiegt waren und das Abendessen ausgeteilt worden
war, das wie immer aus trockenem Brot und einem Becher Milch bestand.
    Aber die vertrauten Lieder klangen
nur fremd ohne Carolines Begleitstimme und brachten Emma wieder zum Weinen. Zum
Schluß hielten sich die beiden Mädchen in stummem Unglück fest umfangen und
versuchten
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