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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut
Autoren: Uta Maier
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war klein, vielleicht drei oder vier Zentimeter groß, hübsch verarbeitet, der kleine Spiegel oval und in ein goldenes Gehäuse eingelassen, das an einem feinen Kettchen hing. Sicher konnte man es öffnen. Unschlüssig starrte ich auf das glitzernde Schmuckstück. Teufelsding , flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.
    Wieso bekommt es Finan und nicht ich? Das ergab keinen Sinn. Jetzt wusste ich auch, weshalb mein Herz so schnell polterte, als würde es mit mir davongaloppieren wollen.
    Ich habe die Spiegelphobie, ich bin es, die seit sieben Jahren in keinen Spiegel mehr gesehen hat. Ich kaufe meine Kleider nur online und habe in Eloi einen Stilberater, der einen Kartoffelsack nicht von Haute Couture unterscheiden kann. Ich habe keine Freundinnen, da alles, was Mädchenfreundschaften ausmacht, mit mir nicht möglich ist. Ich kann mich nicht schminken, ich kann nicht shoppen gehen, ich kann nicht über Jungs sprechen, weil ich noch nie einen Freund hatte!
    Den feuchten Kuss von Marvin aus der Parallelklasse konnte man selbst mit viel gutem Willen nicht annähernd als Erfahrung bezeichnen.
    Ich war es, die einen Spiegel zur Volljährigkeit verdient hätte – als Ermahnung! Es war nicht fair, doch was war das schon?
    Papa hatte zu dem Zeitpunkt seines Todes nicht einmal ahnen können, dass mein Bruder sterben würde – und erst recht nicht wie. Aber er hatte ja auch nicht vorhersehen können, zu welchem Freak ich danach mutieren sollte. Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Manchmal kam ich mir so einsam vor, dass ich sogar das Lächeln der Kassiererin im Supermarkt als Freundschaftsbeweis ansah.
    Unwillkürlich zog ich die Kapuze wieder auf und fühlte mich augenblicklich besser. In einer plötzlichen Eingebung inspizierte ich das Kästchen noch ein wenig genauer, fand aber nichts außer der schwarzen Samthaut im Inneren. Keinen Brief, keine Erklärung. Mein Blick saugte sich an den geschlossenen Medaillonhälften des Stückes fest. Es lag vor mir wie eine kostbare Auster, deren Schale es zu knacken galt. Sollte ich es mitnehmen?
    Coco! Du hast nicht umsonst stundenlang mit deiner neuen Vermieterin rumgezackert, weil du den Badezimmerspiegel einfach hast abmontieren lassen. Lass es hier bei Finan. Möge es in Frieden ruhen. Teufelsding!
    Ich stellte die schwarze Schachtel hinter mich, nahm den Topf mit den zartgelben Lilien, den ich vorhin neben mir abgestellt hatte, und platzierte ihn genau auf der Grabmitte. Das Geschenk hatte mich den ganzen Morgen von meinem Kummer abgelenkt: die Neugier auf den Inhalt des Päckchens und mein Vorhaben, es erst am Nachmittag an seinem Grab zu öffnen. Aber jetzt hatte ich alles erledigt und das vertraute Ziehen schlich sich in mein Herz. Sehnsucht, tief und schwer, bis in die Ewigkeit.
    Ich vermisse dich. Vermisse dich. Noch immer, Finan. Manchmal glaube ich, der Schmerz hört niemals auf. Ich fühle mich, als wäre ich ganz allein auf der Welt.
    Ich blieb lange an dem Grab meines Bruders sitzen, kostete den bittersüßen Geschmack der Erinnerungen voll aus und rief mir sein Gesicht ins Gedächtnis. Früher hatten wir oft ein Spiel gespielt, für das es eigentlich keinen Namen gab: Es ging darum, auf alles eine Antwort zu finden, die Seele der Dinge beim Namen zu nennen. Eine seiner schwierigsten Fragen war einmal gewesen: Welchen Geschmack hat der Himmel? Ich konnte und kann sie bis heute nicht beantworten. Damals hatte ich gesagt: wie Engelblau-Eis, weil mir nichts Besseres eingefallen war. Aber er schüttelte nur unzufrieden den Kopf. Wie Finan wohl jetzt ausgesehen hätte? Mit seinen zimtfarbenen Sommersprossen und den braunen Haaren? Bedeutungslos . Vergangen ist vergangen.
    Ich stand ruckartig auf und angelte meine Schultertasche vom Boden. »Bis dann, Finan.« Ich ließ den Anhänger zurück. Es war sein Geschenk. Ein seltsames, zugegeben, aber ich musste nicht jedes Geheimnis ergründen. Tief im Inneren kaufte ich mir allerdings schon jetzt dieses So-tun-als-ginge-es-mich-nichts-an nicht ab. Spätestens in einer Stunde würde ich Eloi in der Entzugsklinik anrufen und mich danach erkundigen, ob er etwas darüber wusste.
    Ich lief an den Kindergräbern vorbei. Der blaue Plüschelefant auf dem letzten Beet ließ traurig die Ohren hängen, als hätte er aufgegeben, auf seinen Besitzer zu warten. Ein Auge war abgeplatzt. Irgendetwas in meinem Magen knotete sich schmerzhaft zusammen. Kindergräber gehörten verboten. Alle. Für immer.
    Als ich schließlich die lange
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