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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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Kapitel 1
Dombey & Son
    Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren. Emily Laing erfuhr dies, bevor ihre Zeit gekommen war. Als sie meinen Weg kreuzte, flüchtete sie vor denen, die ihr eine Zukunft versprochen hatten, jenen, die täuschen und lügen und betrügen und dafür sorgen, dass das Lächeln in Kindergesichtern traurig und unecht wirkt.
    Außer Atem kniete das Mädchen am Fuße einer Rolltreppe in der Tottenham Court Road, während der lauwarme Wind eines nahenden Zuges ihr das rote, lockige Haar aus dem schmutzigen Gesicht blies. Ängstlich sah sie mich an, und als ich der Ratte gewahr wurde, die neben dem Mädchen auf dem Boden saß und zutraulich die Schnauze gegen die Hand der Kleinen drückte, um mich sodann mit wachsamen Kulleraugen zu mustern, wusste ich, dass ich die Untergrundbahn nicht alleine verlassen würde.
    So lernte ich Emily Laing kennen.
    An einem Tag im Winter.
    Nicht lange vor Weihnachten.
    »Sie sollte längst zurück sein«, höre ich mein Gegenüber sagen.
    Die Besorgnis, die nie verschwindet, erwacht zu neuem Leben.
    Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Normalerweise beruhigt mich dieser Raum mit der niedrigen Holzdecke und den vielen Gästen, die laut redend ihr Bier trinken. Nicht jedoch an diesem Abend.
    »Sie hat es geschafft«, bemerke ich möglichst zuversichtlich.
    »Du spürst es?«, will mein Gegenüber wissen.
    Ich nicke nur.
    »
Ich
spüre nichts. Nicht das Geringste.«
    Das
beunruhigt mich noch mehr.
    Ich schaue durch eines der kleinen Fenster in die Nacht hinaus. Draußen hat es wieder zu schneien begonnen. Dicke Flocken wirbeln durch die Dunkelheit. Ich nippe an meinem Kräutertee. Mürrisch und gedankenverloren.
    Ein verlorenes Kind irrt gerade durch dieses eisig klirrende Wintermärchen, in das sich London seit bereits zwei Monaten verwandelt hat.
    »Wir hätten sie nicht gehen lassen dürfen«, stellt mein Gegenüber fest.
    »Hatten wir denn die Wahl?«
    Im Grunde genommen wissen wir doch beide, dass es keinen anderen Weg gab.
    Doch sollte ich meiner Erzählung nicht vorgreifen.
    Schließen Sie die Augen und lauschen Sie meinen Worten. Folgen Sie mir nach Rotherhithe, wo die Luft allzeit salzig nach Meer riecht und die riesigen Lagerhäuser an die alten Zeiten erinnern, als hier noch die Waren aus den Kolonien umgeschlagen wurden. Damals duftete es nach Zimt und Ingwer und Ananas, nach Orient und anderen fernen Ländern; damals zogen Pferde schwere Karren durch die engen Gassen, beladen mit fremden Köstlichkeiten. Doch der Zauber verflog und machte lärmenden Kränen, rostigen Lastern und herumlungernden Gestalten Platz.
    Das Kopfsteinpflaster wirkt heute dunkler und schmutziger. Des Nachts ist es unsicher auf den Straßen und in den Gassen. Spärliches Licht aus krummen Laternen lässt die Dinge zur Hälfte im Schatten verschwinden. Gut gesittete Bürger neigen dazu, diese Gegend zu meiden.
    Emily Laing kannte sich dort aus.
    Drüben am anderen Themse-Ufer.
    Ein klappriges Schild aus morschem Holz mit der dahingekritzelten Aufschrift »Dombey & Son – Anstalt für heimatlose Kinder« zierte den Eingang zu ihrem Zuhause. An diesem traurigen Ort soll unsere Geschichte beginnen?, werden Sie sich fragen. Sie wird es! Denn ich werde sie genauso erzählen, wie sie passiert ist. Und sie begann nun einmal in Rotherhithe, hinter den Mauern jenes armseligen Kinderheims, das von Reverend Charles Dombey nebst seinem Sohn Charles Dombey junior geführt wurde, unter Mithilfe eines ständig missgelaunten und dem Alkohol verfallenen Hausmeisters namens Mr. Meeks.
    Die Kinder jener Anstalt besaßen nur einen Vornamen, von dem allerdings kaum jemand außer ihnen selbst Gebrauch machte. Für Reverend Dombey waren die Kinder lediglich Nummern, und nur als solche kannte er sie und sprach sie auch nur auf diese Weise an.
    »Fünfzehn hat den Kater geärgert«, hörte man Mr. Meeks oft fluchen, der das zerlauste, bissige Monster liebte. »Vierundzwanzig bekommt wegen unzüchtiger Scherze zehn Schläge mit dem Rohrstock«, verhängte der Reverend, wie er von den Kindern genannt wurde, die von ihm bevorzugte Strafe. Entkommen gab es keines und Vergehen gab es viele an der Zahl. »Sieben isst den Teller nicht leer. Dreizehn will nicht einschlafen. Zweiundzwanzig hat sich im Essensraum übergeben.« Selbst banale Missgeschicke wurden bestraft.
    Unerbittlich schlug der Reverend zu.
    Und nicht wenige der Kinder erkannten die Freude, die in
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