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Der Thron der roten Königin

Der Thron der roten Königin

Titel: Der Thron der roten Königin
Autoren: Philippa Gregory
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    Frühjahr 1453
    N
ach der Dunkelheit drinnen blendet mich das helle Licht des Himmels. Ich kneife die Augen zusammen und höre das Anschwellen zahlloser Stimmen. Doch dieses Flüstern, das zum Grollen wird, ist nicht meine Armee, die mich ruft. Es ist nicht ihr Angriffsgeschrei, und es rührt auch nicht vom Klopfen der Schwerter auf die Schilde. Was dort knatternd vor dem Himmel weht, sind nicht meine Engel und Lilien auf Leinen gestickt, sondern verfluchte englische Standarten, triumphierend in der Maibrise. Das sind auch keine Hymnen, es sind Schreie von Menschen, die begierig sind, jemanden sterben zu sehen: mich.
    Als ich über die Schwelle meines Gefängnisses auf den Marktplatz trete, ragt mein Ziel hoch vor mir auf – ein Holzstapel, an dem eine Leiter mit ein paar rohgezimmerten Sprossen lehnt. Ich flüstere: «Ein Kreuz. Kann ich ein Kreuz bekommen?» Und dann lauter: «Ein Kreuz! Ich brauche ein Kreuz!» Und irgendein Mann, ein Fremder, ein Feind, ein Engländer, einer von denen, die wir wegen ihrer unaufhörlichen Blasphemie die «Gottverfluchten» nennen, streckt mir ein grobgeschnitztes Kreuz entgegen. Ohne jeglichen Stolz schnappe ich es aus seiner dreckigen Hand. Ich halte es umklammert, als sie mich auf den Holzstapel zuschubsen und die Leiter hochschieben, als ich beim Emporklettern von den rohen Sprossen abrutsche und weiter hinaufklettere, als ich groß bin, bis zu dem wackeligen Podest, das oben auf den Scheiterhaufen gehämmert wurde. Als sie mich grob umdrehen und mir die Hände hinter dem Rücken um den Pflock binden, halte ich es noch immer.
    Es geschieht alles so langsam, dass ich fast meinen könnte, die Zeit sei stehengeblieben und die Engel kämen zu mir herab. Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen. Sind mir die Engel etwa nicht erschienen, als ich die Schafe gehütet habe? Haben sie mich etwa nicht beim Namen gerufen? Habe ich keine Armee zur Befreiung von Orléans angeführt? Habe ich etwa nicht den Dauphin gekrönt und die Engländer vertrieben? Ich allein? Ein Mädchen aus Domrémy, geleitet von seinen Engeln?
    Rundum am Boden entzünden sie das Reisig. Rauch wirbelt auf und wabert in der Brise. Dann fängt das Holz Feuer, und eine heiße Wolke umhüllt mich, ich muss husten und blinzeln, mir tränen die Augen. Schon verkohlen meine Fußsohlen. Ich trete von einem Fuß auf den anderen, wie eine Närrin, als könnte ich mir auf diese Weise Unannehmlichkeiten ersparen, und ich spähe durch den Rauch, ob nicht jemand mit Wassereimern angelaufen kommt, um zu erklären, dass der König, den ich gekrönt habe, diesem Treiben Einhalt gebietet. Oder ob die Engländer, die mich einem Soldaten abgekauft haben, jetzt nicht doch einsehen, dass sie mich nicht töten dürfen, oder dass meine Kirche erkennt, dass ich ein gutes Mädchen bin, eine gute Frau, unschuldig – außer dass ich Gott mit einer leidenschaftlichen Bestimmung gedient habe.
    Kein Retter findet sich in der dichtgedrängten Menschenmenge. Der Lärm schwillt zu einem ohrenbetäubenden Kreischen an: einem Durcheinander aus gebrüllten Segen und Flüchen, Gebeten und Obszönitäten. Ich blicke nach oben in den blauen Himmel nach meinen herabsteigenden Engeln, da löst sich im Scheiterhaufen unter mir ein Stamm, und der Pfahl schwankt. Die ersten Funken fliegen hoch und versengen meine Jacke. Sie verglühen wie Feuerfliegen auf meinem Ärmel. Ein trockenes Kratzen in der Kehle von all dem Rauch bringt mich zum Husten, und ich flüstere wie ein Mädchen: «Lieber Gott, rette mich, deine Tochter! Lieber Gott, halte deine Hand über mich. Lieber Gott, verschone mich, deine Tochter …»
     
    Ein lauter Knall, ein Schlag gegen den Kopf. Fassungslos sitze ich auf den Dielen meines Schlafzimmers, die Hand am geprellten Ohr. Ich sehe um mich wie eine Närrin und erkenne nichts. Meine adlige Gouvernante kommt zur Tür herein. Als sie mich benommen neben dem umgekippten Gebetshocker sitzen sieht, sagt sie gereizt: «Lady Margaret, geht zu Bett. Es ist weit über Eure Schlafenszeit. Unsere Liebe Frau Mutter schätzt die Gebete ungehorsamer Mädchen nicht. Es liegt kein Verdienst in der Übertreibung. Eure Mutter wünscht, dass Ihr früh am Morgen aufsteht. Ihr könnt nicht die ganze Nacht aufbleiben und beten, das ist Torheit.»
    Sie knallt die Tür zu. Ich höre, wie sie zu den Mädchen sagt, eine von ihnen müsse mich jetzt ins Bett bringen und neben mir schlafen, um sicherzustellen, dass ich mich nicht um
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