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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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wieder angeschwemmt. Wie Treibholz. Du und ich. Ich ziehe weiter. Rastlos. Deine Anrufe, wie Bitten.
    Wo bist du?, fragst du, und es klingt wie ein Ruf in die Ferne. Es ist, als rufst du dir selber zu. New York. Berlin. London. Ich mache kurze Besuche in Basel, wie hingeschleudert. Ich schwebe durch deine Wohnung. Eine Feder. Ich sehe die stumme Schreibmaschine am Tisch vor dem Fenster. Hattest du nicht noch etwas vor? Schreiben, wie man eine Bombe baut, so sagtest du. Die Detonation auf die Sekunde geplant. Und dann aus sicherer Entfernung zuschauen, wie die Fetzen fliegen.
    Beim Essen sehe ich dich an: Die Gabel zittert. Die Hand will nicht zum Mund.
    Schweißperlen am Haaransatz. Adrenalin schießt durch die Venen, Stresshormone. Der Körper, der Schweinehund, macht, was er will. Wir lachen noch. Was nicht lustig ist. Dann fluchen, fluchen, fluchen. Wir fluchen zum Nachtisch und zum Kaffee. Mr. Parkinson immer schön bei uns. Flucht nur! Ich sehe, wie er mit dir aufsteht, dir folgt, Schritt für Schritt. Treuherzig wie ein Hund.
    Monate vergehen. Die Muskeln schwinden. Tag für Tag. Parkinson geht mit dir ins Bett, steht mit dir auf, begleitet dich durch den Tag, durch die Nacht. Er atmet deine Luft, bis du keine mehr hast.
    Du schickst Nachrichten, ich höre deine Stimme auf meinem Anrufbeantworter. Du lässt ausrichten, über Freunde; ruf doch mal an! Kranke machen mich nervös. Die Verzweiflung. Das Alter. Jedem sein Elend, aber ich reise noch, so weit ich kann. Die Kranken entfernen sich von den Gesunden in ihre eigene Welt. Wie Katzen, die sich zum Sterben hinlegen. Im Schutz eines Gebüschs oder einer Hausmauer, etwas abseits vom Lärm der Welt.
    Du magst nicht mehr, sagst du. In Flugzeugen sitzen. Reisen. Du bleibst im Eckhaus. Wie eine Maus in ihrem Loch.
    Manchmal fliegt jetzt beim Essen etwas vom Teller. Pass doch auf. Verdammt! Du strengst dich an. Wie ist es eigentlich, wenn die Hand, die man zum Mund führen will, einfach woanders hingeht? Ich lasse dich. Allein mit Parkinson. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagtest du einmal. Damals wusste ich nicht, was du damit meinst.
    Du schreibst noch – alte Schule – mit der Hand. Geht jetzt auch nicht mehr. Die Hand zuckt aus, Buchstabe für Buchstabe, auf dem Papier ein Gekritzel wie eine frühe Kinderzeichnung. Ein Kreis schließt sich. Vielleicht ist es das, was man die Hölle auf Erden nennt.
    Eines Morgens hast du entschieden. Radikal. Du nahmst ihn an der Hand, Mr. Parkinson mit festem Griff, und schlugst die Tür hinter dir zu. Zum letzten Mal.
    Es ist gut. Gehen wir, sagst du zu dir selbst. »Um vier Uhr in der Früh ist die Zeit der Exekutionen«, so sagtest du, als ich dir erklärte, dass dies eine gute Zeit sei, um zu schreiben, weil dann die Welt so friedlich und still sei. Du warst ein Meister im Zertrümmern von Illusionen. »Was heißt schon friedlich!«, hast du gesagt, deine Zähne gezeigt und gelacht. Ein Lachen wie ein Biss, der eine Wunde hinterlässt.
    Nur ein paar Schritte bis zum Wasser. Du warst einfach eine schwarze Silhouette in der Nacht. Ein einsamer Schatten. Du riechst den Fluss, dann hörst du ihn. Ein gleichmäßiges Rauschen in der Nacht. Ihr seid allein, du und der Rhein. Niemand sieht dich. Die Stadt schläft – darauf konntest du dich verlassen. Hier kommt niemand und stört einen beim Sterben. Ins Wasser gehen, auch eine Todesart. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, und dann ist es doch: ein Tod. Du wählst. Wie russisches Roulette, den Abzug im Mund. Klick, klick.
    In London lese ich im Internet, dass du verschwunden bist. Vermisst. Die Polizei sucht. Warum so übertrieben? Warum verschwinden? Ich denke erst an einen Wald. Du mochtest den Wald. Bist oft spazieren gegangen. Nicht mit mir. Laubbäume, nasse Blätter, der Geruch von Moder, die tödliche Idylle der Laubbäume im Winter sind mir suspekt. Nein, mit dem Wald wollte ich noch nie etwas zu tun haben.
    Ich wähle deine Nummer, obwohl ich weiß: Deine Stimme höre ich nie wieder. Hast du dich eingebuddelt, in ein Erdloch vergraben? Das passt. Deine Hände in die Erde gekrallt. So sehe ich dich.
    Ans Wasser denke ich nie. Keine Sekunde. Auch nicht an deinen Tod. Du willst deine Ruhe haben, das ist alles. Abgehauen, ausgerissen wie ein Teenager. Komm schon, denke ich, reiß dich zusammen. Wir wollten doch noch ins Kino gehen. Hast du gesagt.
    Wasserleichen sind besonders hässlich. Schwarz, aufgeblasen. Warum tust du dir das an? Und den anderen? Was ist mit der
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