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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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dunkler Berg über ihren Körper wölbt.
    Rasch wirft sie die Decke zurück und richtet sich auf. Rosalie atmet auf, sie ist gestrandet. Aufgetaucht aus einem tiefen finsteren Traum. Ihre Schwester war im Traum erschienen, um Rache zu nehmen; ihr Gesicht war hundertfach, von allen Seiten, auf Rosalie zugekommen, sie war umzingelt gewesen wie von bedrohlich näher rückenden Mauern. Erleichtert blickt Rosalie jetzt auf die Sonnenstrahlen, die durch den Spalt des Vorhangs auf den Teppich fallen.
    Der Tag ist da, denkt Rosalie, und mit einem Satz springt sie aus dem Bett, zieht die Vorhänge auf und geht, ohne einen Blick aus dem Fenster zu werfen, zu ihrem Kleiderschrank. Gewöhnlich zieht sie sich gedankenlos an, mit raschen, jahrzehntelang eingeübten Bewegungen. Doch heute ist es Rosalie feierlich zumute, und sie steht lange vor dem geöffneten Kleiderschrank, zieht das eine oder andere Kleid heraus, um es zu betrachten, bevor sie sich für das dunkelgrüne Strickkleid entscheidet. Aus der braunen Lederschatulle holt sie eine Bernsteinkette, das einzige Schmuckstück, das Rosalie besitzt. Sie muss lächeln, als sie bemerkt, wie sorgfältig sie sich für den heutigen Tag herrichtet. In der Küche bereitet sie mit flinken Bewegungen das Frühstück zu. Vergessen ist die Dunkelheit der Nacht, der böse Traum, Rosalie denkt nur noch an ihre Gäste. Sie murmelt ihre Namen vor sich hin, während sie das Geschirr aus dem Schrank nimmt und auf ein Tablett stellt. Fünf Leute sind es, denen sie heute das Frühstück zubereiten muss. Natürlich werden die Gäste wieder, wie immer, länger schlafen und später kommen, als sie es am Vortag angekündigt haben. Eine unordentliche Familie ist das. Rosalie stellt die Kaffeetassen scheppernd auf den Tisch. An diesem großen Tisch mit den scharfen Kanten hat sie selbst schon als kleines Mädchen gesessen. Hier hatten sie und ihre Schwester Sonntag für Sonntag mit gefalteten Händen gebeichtet, vor den Eltern, die auf der anderen Seite saßen und sich über eine passende Strafe unterhielten. Rosalie hat immer dieses Bild vor sich, wenn sie den Frühstückstisch deckt. Und dann denkt sie mit Genugtuung daran, wie sie, nachdem ihre Eltern bei dem Unfall ums Leben gekommen waren, das Erbe an sich gerissen hat. Den ganzen Hausrat, mit dem sie ihre Pension einrichtete. Und ihre Schwester hatte nichts dagegen unternommen, weil sie sich nicht durchsetzen konnte, gegen sie, die Ältere. Dass ihre Schwester vielleicht alles hergab, weil sie von dem Erbe gar nichts wissen wollte und nur allzu froh war, das Gerümpel und die Eltern, was für sie dasselbe war, endlich los zu sein, kam Rosalie nicht in den Sinn.
    Rosalies Familie, die sich aus immer neuen Gästen zusammensetzt, sollte es hier jedoch besser haben. Aber die Leute tun leider nie das, was Rosalie von ihnen erwartet. Nach all den Jahren der Enttäuschung hat sie nicht mehr viel Geduld. Manchmal hasst Rosalie ihre Gäste. Seit einigen Jahren kommen die Leute kein zweites Mal in ihre Pension. Sie hat sogar Beschwerdebriefe erhalten, in denen ihre Pension als »der unfreundlichste Ort in ganz München« bezeichnet wird. Sie hat die Briefe aufgehoben, sie denkt, dass sie sie irgendwann jemandem vorlesen wird, mit dem sie darüber lachen und sie dann zerreißen kann.
    Rosalie horcht auf. Aus dem Zimmer Nummer zwei kommt ein spitzes unterdrücktes Kichern und darauf ein lautes Poltern, als wäre ein Stuhl gegen die Wand geworfen worden. Es ist das Zimmer der beiden Mädchen, die gestern aus Berlin angekommen sind. Rosalie erinnert sich, wie sie sich argwöhnisch im Zimmer umgesehen hatten, und Rosalie hatte gleich gedacht, dass es sich um zwei verwöhnte, unerzogene Mädchen handle. Rosalie zieht gerade die Servietten durch die Serviettenringe, als Familie Sober aus ihrem Zimmer tritt und sich an den Tisch setzt. Die Mutter und der achtjährige Sohn setzen sich hinten auf die Bank, der Vater an die Seite. Rosalie bringt den Kaffee und fragt, ob sie gut geschlafen hätten. Die Mutter findet, dass es sehr ruhig sei hier. Ja, mitten in der Stadt und sehr ruhig, fügt der Vater hinzu und greift in den Korb mit den frisch gebackenen Brötchen. Der Sohn nimmt gleich zwei; Frau Sober zieht ihre Hand schnell zurück und lässt ihr Brötchen ungeschickt auf den Teller fallen. Rosalie entgeht nicht die Schwächlichkeit dieser Bewegung, so wie es Rekonvaleszenten nach langer Krankheit eigen ist. Gerade als Rosalie einen Schritt weg vom Tisch in
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