Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
Vom Netzwerk:
Richtung Küche macht, bemerkt sie, wie der Sohn den ererbten Honigtopf aus gelbem Email mit beiden Händen nimmt, ihn ganz nahe vors Gesicht hält, daran zu schnuppern scheint, ihn fast mit der Nase berührt. Rosalie gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und knallt den Topf auf den Tisch. Sie murmelt etwas von »nicht spielen« und »Honig auf den Teppich leeren«. Die Mutter war zusammengezuckt, als die Hand der Wirtin ausholte, lächelt aber jetzt, und der Vater auch, weil es ja kein wirklicher Schlag gewesen war, mehr ein Zurechtrücken. Beide sehen sich an mit diesem einvernehmlichen Blick, den Rosalie bei Ehepaaren mit Kindern schon so oft gesehen hat. Als ob sie ein Gehirn teilten mit den gleichen Gedanken, und Rosalie kann die Gedanken lesen: Die Wirtin ist eben eine schrullige alte Frau. Rosalie würde am liebsten auflachen. Hier in diesem Haus hat niemand ein Geheimnis vor ihr. Was sich die Leute bloß alles einbilden!
    Sie räumt den Tisch ab, um ihn für die nächsten Gäste aufzudecken, und als sie die leeren Eierschalen fortwirft, sieht sie in der einen Schale das Eiweiß unberührt und in der Mitte ein sauberes Loch, dort, wo Sobers Sohn mit dem Löffel das Gelbe herausgelöst hat.
    Die Mädchen kommen erst gegen zehn Uhr zum Frühstück. Rosalie bemerkt, dass sie die gleichen Kleider wie gestern tragen. Hosen und T-Shirts, die am Körper hängen wie Säcke. Am meisten wundert sie sich über die Schuhe, die aussehen wie jene, welche ihr Vater beim Militär getragen hatte. Die Mädchen möchten keinen Kaffee, sondern heiße Schokolade, sie sitzen mit aufgestützten Ellbogen am Tisch. Rosalie fragt sie nicht, ob sie gut geschlafen haben. Sie stellt nur alles hin und geht gleich wieder in die Küche. Dort ist sie in Sicherheit. Sie findet die Mädchen abscheulich. Sie kratzt mit dem Fingernagel die hart gewordenen Eigelbspuren von Herrn Sobers Teller und hört jedes Wort, das sie sprechen. So laut sprechen die, dass Rosalie jedes Wort verstehen kann, ohne zu lauschen, sie stellt sich dann aber doch in den Türrahmen und konzentriert sich und ärgert sich gleichzeitig, weil die jungen Leute so unvorsichtig sind und rücksichtslos, weil es ihnen völlig egal ist, ob man ihnen zuhört oder nicht.
    »Da ist doch nichts zu holen.«
    »Diese Stadt ist sterbenslangweilig.«
    »Um drei treffen wir die anderen im Anasta. Möchte wissen, was die zusammengerafft haben.«
    Dann rufen sie nach Milch, und Rosalie beeilt sich und holt welche. Während sie einem der Mädchen die warme Milch in die Tasse füllt, stellt sie sich vor, wie sie ihr das Brötchen wieder aus der Hand nimmt, das sie gerade aus dem Körbchen entwendet hat, und ihr eine tüchtige Ohrfeige verpasst. Plötzlich steht das Mädchen auf und grunzt, die Hände auf die Tischkante gestützt, ein »Wir sehen uns später noch«, mit vollem Mund; dabei fällt ein feiner Regen aus Brosamen auf den Teppich. Sie gibt der anderen einen Wink, und sie verschwinden hinter der Zimmertür. Zitternd stellt Rosalie den Krug ab und geht eilig in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Rosalie ist auf einmal sehr aufgeregt, sie stürzt das Wasser mit einem Schluck hinunter und lehnt sich, von einer plötzlichen Schwäche, einem leichten Schwindel ergriffen, an die Wand. »Ich muss eine Hilfe haben«, überlegt sie, die Handflächen fest an die Wand drückend, »jemand, der mir bei der Arbeit hilft.« Sie beschließt, am Montag ein entsprechendes Inserat aufzugeben. Erleichtert und wie gestärkt durch dieses Vorhaben, schaltet sie das Radio ein und beginnt, eine Melodie mitsummend, das Geschirr abzuwaschen. Aber die Mädchen gehen ihr nicht aus dem Kopf. Rosalie wünscht, sie wären fort.
    »Die Pässe«, denkt sie plötzlich, »ich habe ihre Pässe noch nicht bekommen.« Sie lässt den Teller ins Wasser zurücksinken und eilt in ihr Arbeitszimmer. Sie hat die Pässe noch nicht erhalten. Sie sagten gestern, sie müssten erst ihre Taschen auspacken. Sie würden sie dann bringen, in einer halben Stunde. Aber sie haben sie nicht gebracht, und Rosalie hat es vergessen und schaut jetzt in alle Fächer und durchwühlt die Papiere und findet sie nicht. Erst mit energischen, dann immer langsameren Schritten geht sie auf das Zimmer der Mädchen zu. Sie starrt auf die Tür, auf die feinen Risse im dunklen Holz und beschließt zu warten, bis die Mädchen von selber herauskommen. Sie geht in ihr eigenes Zimmer, um das Bett neu zu beziehen, lässt aber die Tür offen, damit sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher