Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
Vom Netzwerk:
spiralförmig um ein mächtiges Atrium. Auf der linken Seite, hinter einer Wand aus dunklem Glas, sah man den Schatten des Lifts, große Vogelflügel, die sich abwechselnd nach oben schwangen und in die Tiefe stürzten. Seit sie sich im Gebäude befanden, hatten sie kein Wort gesprochen. Von irgendwo weit unten hörte man helle Klavierklänge. Muto ging vom Geländer weg und drückte ihren Rücken und die Handflächen an die Wand. Ganz leicht spürte sie den Boden unter sich schwanken. Ginza konnte beobachten, dass die Menschen, die sich übers Geländer beugten, um hinunterzublicken, reflexartig ihren Kopf einzogen, als würden sie zurückgestoßen.
    Eine große Glaskuppel schloss den Turm ab, durch die man in den Himmel sehen konnte. Ginza, Aya und Muto gingen einen langen Flur entlang, der zu einem Restaurant führte. Dort setzten sie sich an die Fensterfront. Auf dem Huangpu-Fluss kreuzten hell erleuchtete Tanzschiffe. Auch die Häusermeile des Bunds war erleuchtet, und Ginza konnte sogar die Fenster des Peace Hotels ausmachen. »Unter uns sind fünfundfünfzig leere Stockwerke«, sagte Aya plötzlich, als ob sie diese Tatsache beunruhigte. »Nicht mehr lange, und es wird hier voll sein«, erwiderte Ginza, »irgendwann werden Menschen vielleicht ihr ganzes Leben in diesem Turm verbringen.« Dann starrten sie alle in die gleiche Richtung, den blinkenden roten Lichtern nach, und wie in Zeitlupe hoben sie ihre Köpfe, als ein Flugzeug genau über der Glaskuppel einen Bogen machte und Schanghai hinter sich ließ.

Yakos Reise
    Es war Ende Sommer, und für Yako war die Zeit gekommen, die Stadt zu verlassen. Sein Architekturstudium hatte er zur großen Enttäuschung der Eltern frühzeitig abgebrochen, er widmete sich seither ganz der Musik. Er spielte Saxophon und suchte Anschluss an eine Band. Mit dem wenigen Geld, das er besaß, hatte er sich ein Ticket nach L. A. gekauft, aus einem unbestimmten, aber starken Gefühl heraus, dort auf die richtigen Leute zu treffen. Seine Eltern waren über diese Entscheidung entsetzt und warfen ihn aus ihrer Wohnung. »Du wirst schon sehen, welch großer Fehler es war, dies deinen Eltern anzutun«, hatte sein Vater ihm noch auf der Türschwelle nachgerufen, bevor er die Tür »für immer« zuschlug.
    Yakos Flug ging erst in zwei Wochen, und er wusste nicht, wohin er hätte gehen können, irrte mit seinem Instrumentenkoffer über den Schultern durch die Stadt. Wie ein Fremder ging er durch die Straßen seiner Heimatstadt, als hätte sie ihn verlassen, noch bevor er sie würde verlassen können. Er war ein Fremdkörper, der sich nicht in den Kreislauf der arbeitenden und eilenden Menschen einfügte, er schlich an den Häusern entlang, und es schien ihm, als schauten die Menschen ihn, sobald sie seinen Koffer wahrnahmen, mit feindseligeren Blicken an, als ahnten sie seine Pläne, als wüssten sie von seiner Abreise und gönnten sie ihm nicht. In einem Café machte er halt, blätterte in seinem Adressbuch und rief in der Reihenfolge des Alphabets Freunde und Bekannte an. Ihre Stimmen schienen seltsam erschreckt, als er seine Bitte äußerte, für die Zeit bis zu seinem Flug bei ihnen übernachten zu dürfen. »Mach doch keinen Blödsinn, Mann, storniere besser das Ticket und bleib zu Hause«, sagten die meisten oder überhäuften ihn mit Ausreden, warum eine Übernachtung derzeit bei ihnen nicht möglich sei. Endlich zeigte sich ein Mädchen, das er eigentlich gar nicht besser kannte, überraschend unkompliziert: »Ich wohne mit einer Freundin zusammen, zwar haben wir wenig Platz bei uns, aber wenn es dir nichts ausmacht, kannst du im Badezimmer schlafen.« Mutsuko und Mira wohnten im zwölften Stock eines Hochhauses in zwei kleinen Zimmern, in die morgens nur für wenige Stunden etwas Sonnenlicht fiel. Beide arbeiteten als Verkäuferinnen in einem großen Kaufhaus, Mutsuko in der Schuhabteilung im ersten, Mira in der Kosmetikabteilung im zweiten Geschoss. Am Morgen verabschiedeten sie sich an der Rolltreppe und trafen sich abends am Ausgang wieder, um gemeinsam mit der Untergrundbahn nach Hause zu fahren. Sie gaben Yako eine Decke und ein Kissen, damit er sich in der Badewanne eine Schlafstätte einrichten konnte. Abends saßen sie zu dritt in der winzigen Küche und aßen rohen Fisch, und Mira und Mutsuko verzehrten große Schalen mit Seetang, der ihre schwarzen Haare noch glänzender machte.
    Das Fenster des Badezimmers war das kleinste der Wohnung, aber es ließ einen Blick auf den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher