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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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berühmt war, machte er einen plötzlichen Schritt nach vorn, so dass er neben Ginza vor der Gruppe stand, und erhob seine Stimme. Irritiert und überrascht hörten ihm alle zu. Mit empörter und zugleich verbitterter Stimme sprach er davon, dass alles, was sie hier sahen, nichts anderes sei als ein läppisches Überbleibsel von dem, was eine zerstörerische kommunistische Regierung während fünfzig Jahren alles vernichtet habe. Darüber würde man in diesem hübsch herausgeputzten Museum nichts erfahren. Auch nichts darüber, dass sich sämtliche Kulturgüter Chinas in Taiwan befänden, wohin sie Chiang Kai-shek gerettet hätte; Schanghai sei in Wahrheit nichts anderes als ein übler Moloch. Er steigerte sich dabei immer mehr hinein, fuchtelte mit den Händen wie mit kleinen, aber wirkungsvollen Waffen durch die Luft und blickte, während er sprach, von Zeit zu Zeit zu Ginza hinüber, als wäre sie persönlich für all das mitverantwortlich. Lächerlich sei es, was sie hier besichtigten, er wies mit der Hand auf eine der Vitrinen, in denen ein winziger Jadebuddha saß. »Ist das alles?«, rief er zornig. »Fünftausend Jahre Geschichte, und dann das!« Daraufhin starrten alle plötzlich auf den Jadebuddha, der klein und grün in der alarmgesicherten Vitrine saß.
    Der Mann wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Er wollte schon wieder zu sprechen beginnen. Mit Schrecken bemerkte er dann aber, wie die Aufseher miteinander flüsterten und mit dem Finger auf ihn zeigten. Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt und ging schnell zwischen den Vitrinen hindurch zum Ausgang. Ginza hatte danach kaum mehr sprechen können. Eine Weile stand sie nur da, ohne ein Wort zu sagen, bis sie merkte, dass sich alle Augen auf sie richteten. Eigentlich hatte sie erzählen wollen, dass der Buddha deshalb so dick war, weil er die Weisheit im Bauch habe. Er sei immer lächelnd dargestellt, weil er die Gesetze des Lebens durchschaut habe und ihn nichts mehr aus der Ruhe bringen könne. Er antworte auf alles nur noch mit einem Lächeln. Nach diesem Vorfall fühlte sich Ginza nicht mehr imstande, dies dem Publikum mitzuteilen, das vor ihr stand und sie unsicher anstarrte. Stattdessen erklärte sie die Führung für beendet und ging nach Hause. Sie fühlte die strengen Blicke der Aufseher im Rücken, bis sie das Gebäude verlassen hatte und außer Sichtweite war. In jener Nacht hatte sie nicht schlafen können und war noch lange, nachdem Aya und Muto schon zu Bett gegangen waren, in der Küche sitzen geblieben.
    Sie musste an einen Vorfall denken, der sich eine Woche zuvor in der Universität ereignet hatte: Es gab eine ausländische Gastprofessorin, die sich in der Universität bei den Studenten großer Beliebtheit erfreute. Ginza, Aya und Muto mochten sie besonders. Oft sprachen sie noch mit ihr nach dem Unterricht, und sie gab ihnen Bücher, aus denen sich die drei dann nachts gegenseitig vorlasen. Es waren Reiseberichte, und diese Bücher waren es auch, die in ihnen die Idee weckten, eines Tages ihre Heimat verlassen zu wollen. Einmal hatte die Professorin sie sogar zu sich nach Hause eingeladen. Ginza, Aya und Muto waren ganz aufgeregt gewesen, denn normalerweise konnten die Studenten das Gästehaus der ausländischen Dozenten nicht betreten. Sie waren erstaunt, wie aufgeräumt ihre Wohnung war, als ob in den Räumen niemand leben würde. Sie hatten frisch gebratene Tauben gegessen und Reiswein getrunken, und die einsam wirkende Professorin zeigte ihnen stundenlang Schachteln mit Fotos. Eines Tages brachte sie eine ausländische Zeitung mit in den Unterricht und las daraus einen Artikel vor. Man erfuhr nie, wer, aber irgendjemand in der Klasse musste sie dafür angezeigt haben. Jeder wusste, dass sie von der Partei zu einem Gespräch vorgeladen worden war. Man hatte sie hingeschickt wie eine Verbrecherin. Es ging ein Gerücht um, man habe sie nach dem Gespräch in ihr Heimatland zurückgeschickt, ein anderes besagte, dass sie selbst gekündigt habe. Auf jeden Fall war sie nicht mehr erschienen, und niemand hatte sie je wieder auf dem Universitätsgelände gesehen. Ginza, Aya und Muto waren darüber schockiert, aber sie behielten ihre Empörung für sich und träumten davon, nach dem Studium eine Weltreise zu machen und vielleicht irgendwo ihre geliebte Professorin wiederzutreffen.
    Ginza war beunruhigt gewesen, als sie allein in der Küche gesessen und an all das gedacht hatte. Sie wollte Aya und Muto wecken, aber
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