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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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die Haut tagtäglich die Schadstoffe der mit toxischen Bleichmitteln behandelten Baumwolle absorbiere. »Du bist tagtäglich in Gift eingekleidet und merkst es nicht mal!« Eine Amsel saß auf der Backsteinmauer, die ihren Garten vom Nachbargrundstück trennte, und hackte eifrig auf etwas herum, das er aus der Distanz nicht genau erkennen konnte, aber am ehesten nach einer Schnecke aussah. »Hörst du überhaupt zu?«, fragte sie. »Ich höre zu«, sagte er. Und drehte sich zu ihr hin, während er aus dem Augenwinkel weiterhin den Vogel beobachtete. »Ich habe dieses Geschäft in Covent Garden entdeckt, das Kleider aus Bambus verkauft«, sagte sie, ihre Stimme hatte dabei diesen enthusiastischen Unterton, von dem er ahnte, dass er nichts Gutes bedeutete. Doch erst als sie aufstand und zu seinem Kleiderschrank ging, begriff er, auf was sie aus war. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und stellte sich vor sie hin.
    »Bist du verrückt geworden? Du möchtest meine Hemden wegwerfen? Kommt nicht in Frage. Nein. Das geht zu weit. Du wirst nicht meine Kleider wegwerfen! Und ich trage keine Sachen aus Bambus. Niemals!« Augenblicklich kam er sich lächerlich vor, wie er nackt mit gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen vor ihr stand.
    Karin schüttelte den Kopf und sah ihn an, als sei er nicht ihr Mann, sondern ein kleines verzogenes Kind. »Warum so stur? Ich wollte dir nur helfen. Meinetwegen kannst du dich vergiften lassen.«
    »Ich vergifte mich nicht«, sagte er laut. Aber sie hatte sich schon umgedreht und war auf dem Weg ins Kinderzimmer. Er blickte ihr nach, fast enttäuscht, wie schnell sie aufgegeben hatte. Sie verschwendete keine Zeit mehr mit ihm. Sie hatte ihr eigenes Fleisch und Blut zu bewahren.
    An diesem Morgen verließ er die Wohnung und aß sein Frühstück allein in einem Café. Er wollte das Geschrei nicht hören. Er hörte es trotzdem. In Gedanken, während er sein Spiegelei verzehrte, sah er, wie Tara weinend ihren Lieblingspulli mit der aufgedruckten Mickey Mouse an sich drückte, sich lauthals dagegen wehrend, dass ihre Mutter ihn wegzuwerfen gedachte. Ein billiges Polyestergemisch – hergestellt in einer Fabrik in China, von Kinderhand zusammengenäht. Ein politisch höchst fragwürdiges, unkorrektes Kleidungsstück. Aber Tara in London, die weder von Kinderarbeit noch von chinesischen Fabriken oder vergifteten Kleidern etwas wusste, hatte diesen Pulli zu ihrem Lieblingsstück erkoren. Mike stellte sich vor, wie sie um ihn kämpfte, schreiend an ihm festhielt und daran zerrte (Mickey Mouse machte dabei eine unansehnliche Fratze), während Karin versuchte, ihrer achtjährigen Tochter zu erklären, warum dieser Pulli in den Abfall gehöre. »Wann, wenn nicht jetzt?«, fragte sie jedes Mal, wenn Mike zu bedenken gab, dass die Kinder noch zu jung seien, um politische Zusammenhänge zu verstehen. Vielleicht hatte sie ja recht – aber zu welchem Preis? Die Kinder taten ihm leid. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass die Welt ungerecht und kaputt war, und manchmal – davon war er überzeugt – musste man die Augen auch schließen können, um normal zu leben. Aber Karin war schon zu weit gegangen. Sie war nicht mehr zu stoppen. An jenem Wochenende schaffte Karin es, sämtliche Kleider auszutauschen – selbst die Bettlaken und Handtücher wechselte sie gegen Produkte aus Bambusfasern aus. Seit sie in den Kleiderschränken der Kinder gewütet hatte, hielten diese mehr zu ihm. Komplizenhaft zwinkerten sie sich zu, wenn Karin am Tisch über einem Bulgursalat erklärte, wie gesund der sei und dass sie die Tomaten auf den Farmers’ Markets gekauft habe, weil die Tomaten von dort nicht nur besser schmeckten, sondern weil es wichtig wäre, Farmers’ Markets zu unterstützen. Tara und Selwyn kickten sich unter dem Tisch mit den Füßen und gaben sich Zeichen, weil Karin ihnen wieder die Welt erklärte.
    Ihn, den Außenseiter, befriedigte das. Er hatte diese Befriedigung bitter nötig. Mehr als einmal hatte er sich vorgestellt, wie Alexander, Karins Ex-Mann, ihn bei den Kindern schlechtmachte. Karin tat dies als Paranoia ab, aber er wusste genau, dass er in Alexanders Augen ein »Loser« war. Der »Künstlertyp«, den Karin auf Londons Straßen aufgelesen hatte, wie einen Hund, der sich verlaufen hatte. Ein brotloser Theaterschriftsteller, der seit Jahren auf seinen Durchbruch im West End wartete. Jedes Mal versetzte es ihm einen Stich, wenn Alexander am Wochenende kam, um die Kinder
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