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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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feindseligen Blicke, die sie sich während des Essens über den Tisch hinweg zuwarfen.
    Sobald Tom und Jane im Zelt in ihre Schlafsäcke gekrochen waren, küsste Vater sie auf die Stirn und ging noch mal zum Restaurant zurück, um dort an der Bar allein etwas zu trinken. Jane, die sich tagsüber beim Spielen verausgabt hatte, war jeden Abend so erschöpft, dass sie sofort einschlief. Aber Tom wälzte sich unruhig im Schlafsack hin und her und lauschte den seltsamen Nachtgeräuschen draußen. Dem Rascheln im Gebüsch und dem Gesang der Zikaden, die laut zirpten, als führten sie aufgeregt ein Gespräch, zu dem er keinen Zugang hatte. Manchmal trug der Wind die Stimmen und die Musik aus der Bar bis ans Zelt. Dann musste Tom an Vater denken, dass er jetzt dort war, wo die Musik herkam, und er versuchte sich ihn vorzustellen, wie er mit leicht gebeugtem Oberkörper an der Theke stand und mit jemandem redete, aber er konnte sich ihn nur alleine vorstellen, wie ausgeschnitten aus der Umgebung.
    Und dann versuchte er, ihn sich zusammen mit Mutter vorzustellen, wie sie an der Theke standen und aus demselben Glas tranken. Aber aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht verstand, löste sich Mutters Gestalt in seinen Gedanken jedes Mal auf.
    In jener Nacht kam Vater später zurück als sonst. Tom wachte auf, als er den Eingang zum Zelt öffnete. Im Mondlicht, das durch das Fenster ins Innere fiel, konnte Tom Vaters Umrisse erkennen. Ein scharfer Geruch von Alkohol ging von ihm aus. Er stand mitten im Zelt, ohne sich zu rühren, und starrte auf seine Kinder. Dann drehte er sich abrupt um und ging hinaus. Tom schlüpfte aus dem Schlafsack und blickte ihm nach. Mit schwankenden Schritten schlug Vater den Weg zum Meer ein. Schnell stand Tom auf, verließ, ohne sich etwas anzuziehen, im Pyjama das Zelt. Der Mond schien hell, und Tom folgte Vaters Fußspuren im Sand. Sie führten in einer Schlangenlinie zu den Dünen, hinter denen der flache weite Strand lag. Auf dem Kamm der Düne versteckte sich Tom hinter einem Busch aus Silbergras. Mit beiden Händen schob er das Gras ein wenig auseinander und beobachtete, wie Vater über den Strand direkt aufs Wasser zuging. Das Meer war unruhig in dieser Nacht und schleuderte wie im Zorn seine Wellen an Land. Als Vater mit den Schuhen das Wasser berührte, blieb er kurz stehen und ging dann langsam weiter. Tom sah Vaters Körper, je weiter er ins Meer hineinging, kürzer werden und langsam darin versinken. Er wollte schon hinter dem Gebüsch aufspringen und ihn rufen, als Vater plötzlich wieder auftauchte. Er hatte kehrtgemacht und kam wieder zum Strand zurück. Die triefenden Kleider klebten an seinem Körper, er hielt den Kopf gesenkt, und Tom konnte erkennen, wie er den Mund auf- und zumachte, als würde er etwas vor sich hin murmeln. Dann, mit der Plötzlichkeit eines aufgescheuchten Tieres, sprang er ins Wasser zurück, und diesmal drehte er sich nicht um. Es ging erstaunlich schnell. Tom sah seinen Kopf hinter jeder Welle kleiner werden. Er rannte die Düne hinunter dem Meer entgegen und schrie in das Tosen der Brandung. Doch seine Stimme wurde verschluckt vom Brausen der sich brechenden Wellen. Tom starrte auf die weite, vor ihm liegende dunkle Wasserfläche, die sich hob und senkte, als würde sie beben, aber Vaters Kopf konnte er darin nirgends mehr entdecken. Er wusste nicht, in welche Richtung er laufen sollte, und so rannte er ziellos am Strand hin und her und rief immer lauter aufs Meer hinaus, bis ihm vor Anstrengung schwindlig wurde: Er sah den Mond und die Sterne sich im Wasser spiegeln, in der Gischt zersplittern und sich auflösen. Als folgte er seinen eigenen Rufen, rannte er schließlich ins Meer hinein. Das Wasser klatschte ihm wie eine unwirsche kalte Hand ins Gesicht. Eine Welle hob ihn auf, als wäre sein Körper ohne Gewicht, und trug ihn ein paar Meter vorwärts. Er wollte rufen, stattdessen schluckte er Wasser und ruderte wild mit den Armen, er fühlte, wie die Nässe den Stoff seines Pyjamas schwer machte.
    Tom konnte immer noch stehen, als er hinter einer Welle etwas Weißes aufblitzen sah. Es war Vaters Arm, der näher kam. Tom kletterte rasch aus dem Wasser, er wusste nicht, ob Vater ihn bemerkt hatte, wie er die Düne hinauf, zurück hinter das Gebüsch rannte. Er spürte das Herz bis in seinen Hals schlagen und warf sich erschöpft auf den Sand. Er steckte den Kopf zwischen die salzigen Knie und wollte weinen, aber er zitterte nur und biss sich ins Handgelenk.
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