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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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Vater lag, beide Arme zur Seite gestreckt, mit dem Gesicht nach unten am Strand. Tom erkannte einen von Vaters Schuhen im Wasser. Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, bevor er ins Zelt zurückkehrte. Aber eine ganze Weile hatte er seine Zähne ins Handgelenk gebohrt, um sich zu beruhigen, und auf Vaters Schuh gestarrt, den die Wellen in regelmäßigem Rhythmus mit sich forttrugen und wieder anspülten.
    Als Tom am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne bereits im Zenit. Sein Handgelenk schmerzte, er hatte es sich blutig gebissen. Durch das Zeltfenster sah er Vater, der wie immer unter dem Vordach am Tisch saß, den Kopf in die Hand gestützt hielt und schrieb.
    Sie redeten nicht über das Geschehene, und Tom war überzeugt, dass Vater ihn gar nicht gesehen hatte. Er trug das Geheimnis in sich, als etwas, das ihn schwerer und einsamer machte. Nachdem er aufgestanden war, ging er mit Jane zum Schwimmen ans Meer hinunter. Er konnte die Stelle nicht wiederfinden, der Strand war überfüllt mit Menschen. Das Salzwasser brannte in seiner Wunde. Als Jane neugierig fragte, was er denn da am Handgelenk habe, erzählte er ihr von Monstern, die nachts ins Zelt gekrochen wären und ihn gebissen hätten, aber glücklicherweise hätte er sie vertreiben können, bevor sie sich auch an ihr zu schaffen machten. Jane kreischte fröhlich auf: »Du Lügner, du Lügner!« Tom hätte ihr fast den Kopf unter Wasser gedrückt oder ihr den Mund zugehalten. »Sei still. Sei nur still«, sagte er böse. Erschrocken über seine Reaktion, stieg Jane aus dem Wasser und mischte sich unter eine Gruppe von Kindern, die gerade an einer Sandburg bauten.
    Tom schwamm auf dem Rücken und blickte in den Himmel. Das Geschrei am Ufer lag weit hinter ihm. Während er mit kräftigen Ruderbewegungen das Wasser um sich verdrängte, musste er an Mutter denken, und dass sie, wenn sie nach Hause zurückkehrten, vielleicht schon fort wäre.
    Jane lag jetzt zusammengerollt auf dem Rücksitz. Tom hatte die Decke aus dem Laderaum geholt und über sie gelegt. Er nahm ihre schlafende Hand in die seine. Heute Morgen, kurz bevor sie abfahren wollten, war sie noch einmal zum Strand hinuntergerannt. In einem kleinen Korb sammelte sie Muscheln, die die Wellen ans Ufer gespült hatten. Als sie zurückkam, teilte sie fröhlich mit, dass sie den Korb mit den Muscheln Mutter mitbringen wolle. Darauf riss Vater ihr den Korb aus der Hand und packte ihn schnell in einen Koffer.
    Tom hatte die Augen schon geschlossen und war gerade dabei einzuschlafen, als er Vaters Stimme hörte. Er kam mit einem Mechaniker zurück, der einen Werkzeugkasten bei sich trug. Tom stieg aus dem Wagen, und gemeinsam mit Vater sah er dem Mann zu, der unter der Motorhaube mit Schraubenschlüsseln hantierte. Es war jetzt ein wenig kühler geworden, Vater legte den Arm um Toms Schulter. Kurz darauf ließ der Mechaniker die Motorhaube zufallen. Endlich konnten sie weiterfahren.
    Als Vater sich hinters Steuer setzte, fragte er Tom, ob er nach vorn kommen wolle. Es war das erste Mal, dass Vater ihm anbot, im Auto neben ihm zu sitzen. »Morgen früh sind wir zu Hause«, sagte Vater, ohne ihn anzuschauen. Sie fuhren durch die Nacht, und Tom fixierte die beiden weißen Lichtkegel, die die Scheinwerfer in der Dunkelheit auf den Boden warfen.
    Autos kamen ihnen entgegen, die kurz aus dem Dunkel auftauchten und wieder verschwanden. Hinter sich hörte er leise Jane im Schlaf murmeln. Morgen früh sind wir zu Hause, dachte Tom, und obwohl ihm vor Müdigkeit die Augen zufallen wollten, nahm er sich vor, nicht einzuschlafen, wach neben seinem Vater sitzen zu bleiben, so lange, bis sie da waren.

Ein Fest für Aimée
    Im Halbdunkel des Kinderzimmers bewegen sich zwei Schatten aufeinander zu. Im Bett liegend, hat Aimée ihre Arme hoch in die Luft gestreckt und stellt sich vor, ihre Hände seien zwei sich bekämpfende Tiere. Zwei Finger klappen auseinander und werfen den Schatten eines riesenhaften, sich öffnenden Rachens an die Wand.
    Aimée lässt ihre Hände auf die Decke zurückfallen. Ohne den Kopf zu wenden, erkennt sie im Augenwinkel plötzlich die große, schwere Gestalt. Edith Bischoff hatte die Tür lautlos geöffnet und war unbemerkt ins Zimmer gekommen. Aimée zieht die Decke hoch bis ans Kinn. Als sich Edith Bischoff zum Gutenachtkuss über sie neigt und ihre warmen, harten Lippen Aimées Stirn berühren, dreht sie sich stumm zur Wand. Edith Bischoff macht einen Schritt vom Bett zurück und
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