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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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helfen konnte, dass er gebraucht wurde. Während sich seine kleinen Hände um das harte Leder des Lenkrads klammerten, stellte er sich vor, ein Kapitän zu sein, der sein Schiff durch ein Unwetter steuern musste. Das Hupen der vorbeifahrenden Autos waren die Wogen, die sich am Schiffsbug brachen. Er wäre gerne noch lange so am Steuer sitzen geblieben und bedauerte, dass der Wagen sicher am Straßenrand stand und Vater ihn wieder auf den Rücksitz schickte.
    Durch die Windschutzscheibe sahen Tom und Jane Vaters Rücken kleiner werden und an der Straßenecke verschwinden. Er wollte eine Telefonkabine suchen und den Abschleppdienst rufen. Der Gehsteig war leer, die Geschäfte alle geschlossen, mit eisernen Rollläden, die bis an den Boden stießen. Um das gelbliche Licht einer Straßenlaterne schwirrten Mücken und Falter. Tom beobachtete, wie einige, die zu nahe ans Licht flogen, an der Glühbirne kleben blieben und verbrannten.
    Die Hitze staute sich im Wageninnern, aber Vater hatte ihnen verboten, das Fenster zu öffnen, bevor er wieder zurück war. Jane war inzwischen wieder eingeschlafen. Sie hatte ihren Kopf auf Toms Schulter gelegt, er spürte, wie der Schlaf ihren Körper schwer machte und wie sie langsam von ihm weg zurück in den Sitz rutschte. Tom drückte sich ans Fenster, machte sich so klein wie möglich, damit Jane die ganze Sitzfläche für sich hatte. Er war froh, dass sie schlief und keine Fragen stellte. Manchmal hätte er gern mit jemandem über all die Dinge gesprochen, die ihn verwirrten, aber mit Jane, die vier Jahre jünger war als er, konnte er das nicht. Sie hatte auch in jener Nacht geschlafen. Am Morgen, als sie erwachte, war sie immer noch dieselbe Jane, während Tom wusste, dass sich alles verändert hatte und er nie mehr derselbe sein würde.
    Jane wollte das Zelt am Strand direkt am Meer haben. Vater hatte ihr lange erklären müssen, dass das nicht gehe, weil sie sonst von der Flut mitgerissen würden. Jane hatte das schließlich stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen, und Vater hatte ihr versprechen müssen, das Zelt so nah am Wasser wie nur irgend möglich aufzustellen. Tom und Vater errichteten das Zelt dann zwischen zwei Zypressen, während Jane vergnügt um sie herumtanzte. Sie drehte sich wild wie ein Kreisel um sich selbst, Tom blickte ihr fasziniert zu. »Sie hat wieder ihren Anfall«, sagte er zu Vater, der stumm lächelte. Jane fiel oft, wenn sie versöhnt war nach einem Streit, in eine Art von Freudentaumel. Sie tanzte dann oder sang laut, nur für sich selbst, als ob sie in sich Schleusen vor Glück öffnen konnte und sich in Rausch versetzen.
    Es war ein geräumiges Zelt, in dem alle drei Platz hatten, mit einem Fenster und einem Vordach, unter dem sie einen Klapptisch aufstellten. An diesem Tisch saß Vater den ganzen Tag und schrieb auf lose Blätter, die er abends sorgfältig faltete und in einen Briefumschlag steckte. Tom beobachtete, wie er morgens jeweils den Brief vom Vortag zerriss und wieder von vorn anfing. Abends gingen sie in das Restaurant, das zum Campingplatz gehörte, und setzten sich in den kleinen Garten. Jane, die keine fünf Minuten still sitzen konnte, schüttete gewöhnlich irgendwann während des Essens ihre Cola über den Tisch. Dann ärgerte sich Tom, weil sie immer alle Aufmerksamkeit auf sich zog, und er verstand nicht, warum die Leute ihr trotzdem zulächelten und winkten, obwohl sie doch die Cola verschüttete und den ganzen Tisch verklebte. Wenn Vater besonders gut gelaunt war, gingen sie nach dem Essen noch an der Eisdiele vorbei, die sich in der Nähe ihres Zeltplatzes befand. Dann liefen sie nebeneinander, Jane in der Mitte, jeder versunken sein Eis essend, in stillschweigender Einheit. Einmal kam ihnen auf dem Weg eine junge Frau entgegen, und Tom bemerkte, wie sie mit ihrem Blick schon von weitem Vater fixierte. Als sie auf derselben Höhe waren, lachte sie Vater an und grüßte auf eine Art, die Tom irritierte. In diesem Augenblick musste er an Mutter denken, und er wusste, wenn sie jetzt hier gewesen wäre, hätte die Frau Vater nicht auf diese Weise angeschaut. Tom hätte der Fremden am liebsten ins Gesicht gespuckt. Es war das erste Mal, dass Mutter in den Sommerferien nicht dabei war, in den Wochen, bevor sie weggefahren waren, hatten die lauten, wütenden Stimmen aus dem Elternschlafzimmer ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Tagsüber taten die Eltern so, als ob nichts geschehen wäre, aber Tom entgingen nicht die
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