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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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strich sich wie ein junges Mädchen linkisch Haarsträhnen aus der Stirn und legte sie hinters Ohr. Sie tat, was Dyke sagte, und er fotografierte begeistert ihre Füße. Während des Abendessens im Garten saßen Dyke und Sophie sich gegenüber, und er beobachtete, wie sie die Gabel zum Mund führte oder wie ihre Hände die Serviette auffalteten. Sophie schien es nicht zu merken, aber Clarice bemerkte es und ging früher zu Bett als sonst. In den folgenden Tagen war Dyke damit beschäftigt, Sophie zu fotografieren. Er begleitete sie zum Strand, wich nicht mehr von ihrer Seite. Nur manchmal fuhr er schnell ins Dorf, um neue Filme zu holen.
    Sophies Stimme wurde plötzlich hörbar. Ihr Lachen schwirrte gleich einer unsichtbaren, aber immer und überall präsenten Gestalt durchs Haus. Clarice versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich spürte zum ersten Mal, dass sie Angst hatte. Manchmal blickte sie ihren Vater von der Seite an, als warte sie darauf, dass er etwas sagte. Nur einmal fragte Herr Schmitz Dyke nach dem Abendessen, was er eigentlich mit all den Fotos machen wolle. »Ach, eigentlich nichts«, erwiderte Dyke, »ich übe nur.« Herr Schmitz klopfte ihm auf die Schulter. Etwas zu heftig, um es noch freundschaftlich zu meinen. Aber Dyke ließ sich nichts anmerken, drückte an seiner Kamera herum und begutachtete sie von allen Seiten, wie ein interessantes lebendiges Wesen.
    Am Vorabend der Abreise beschloss Sophie, im Garten zu essen, und trug mit Dyke den Tisch nach draußen. Clarice klagte über Kopfschmerzen und verabschiedete sich noch vor dem Nachtisch. Kurz darauf gingen auch Herr Schmitz und ich in unsere Zimmer. Von meinem Schlafzimmerfenster aus konnte ich Sophie und Dyke sehen, zwei Verliebte, die im Licht einer Kerze einander gegenübersaßen. Clarice klopfte an meine Tür. »Ich kann nicht schlafen«, sagte sie und kroch in mein Bett. In embryonaler Krümmung lag sie unter der Decke. »Mach das Fenster zu«, sagte sie kühl, und: »Ich habe es von Anfang an gewusst.«
    Nächtelang hatten wir als Kinder schlaflos nebeneinandergelegen, weil wir die Gespenster nicht verpassen wollten, die an uns vorbeischleichen würden, sobald wir die Augen geschlossen hätten.
    Noch bevor die Sonne aufgegangen war, stolperte Herr Schmitz ins Zimmer. »Sie sind weg«, sagte er mit erstickter Stimme. Clarice setzte sich unvermittelt auf. Nicht nur ihre Augen waren weit geöffnet, ihr ganzes Gesicht schaute. Es war still im Haus. In der Ferne konnte man die Brandung hören. Clarice schmiss in jedem Zimmer die Blumen fort. Sie knickte die Stängel und rupfte die Blütenköpfe ab. Herr Schmitz schüttelte wie mechanisch den Kopf: »Ist sie denn wahnsinnig, ist sie wahnsinnig geworden?«, sagte er wie zu sich selbst, während er die Sachen, die er am Abend zuvor in den Koffer gelegt hatte, wieder herausnahm und anstarrte, als wüsste er nicht mehr, wohin damit. Ich musste an Clarices Kinderhaar denken, die Locke, die ich irgendwo in einer Streichholzschachtel aufbewahrt hatte. Ich ging zu ihr hin und packte ihren Arm. »Das hat nichts zu bedeuten«, sagte ich unsicher. Clarice blickte kurz auf, und meine Worte verschwanden hinter ihren Augenscheiben im Dunkel.

Auf der Heimfahrt
    In Valencia blieb der Wagen stehen. Die Nacht war hereingebrochen, und die Scheinwerfer jagten über den Asphalt, an dem dunkelblauen Buick vorbei, der mitten auf der Straße stand und sich nicht mehr rührte. Tom konnte vom Rücksitz aus sehen, wie ihr Vater verzweifelt versuchte, den Motor wieder anzulassen. Er trat jetzt heftiger auf das Gaspedal, aber der Motor erstarb bei jedem Versuch unter einem immer leiser werdenden Röcheln.
    Jane hatte sich hinten im Laderaum des Wagens mit Decken und Kissen einen Schlafplatz eingerichtet. Als sie erwachte, stand ihr halblanges blondes Haar zerwühlt vom Kopf ab. Tom gab ihr mit der Hand ein Zeichen, dass sie weiterschlafen solle, doch Jane dachte nicht daran, kletterte neben ihren Bruder auf den Rücksitz und blickte neugierig aus dem Fenster. Draußen donnerten die Lastwagen dicht an ihnen vorbei, und ihr Wagen schwankte wie ein Boot im Wellengang großer Dampfer.
    »Wir müssen den Wagen an den Straßenrand stellen«, rief Vater zu Tom gewandt. Tom stieg nach vorn, setzte sich hinters Lenkrad, und während er auf den rechten Straßenrand zuhielt, schob Vater von hinten den Wagen.
    Tom fühlte die Kraft, die er in den Armen brauchte, um das Lenkrad zu halten. Er war froh, dass er Vater jetzt
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