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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
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abzuholen, und sie mit Freudengeschrei auf ihn zurannten. Er warf Tara wie eine Feder in die Luft, und sie fiel jauchzend in seine Arme zurück. Mike wünschte, er könnte Tara so in die Arme nehmen und an sich drücken. »Hi Mike«, rief Alexander ihm zu, als wäre er nur zufällig auch gerade in der Wohnung und nicht weiter von Interesse. Es wäre ihm lieber gewesen, Alexander würde ihn offen hassen. Das kumpelhafte Getue war schlimmer. Vor der Premiere seines letzten Stücks in einem Theater in Hackney hatte Alexander ihm sogar gönnerhaft auf die Schulter geklopft und ihm viel Glück gewünscht. Den ganzen Abend hatte er noch den Druck seiner Hand auf der Schulter gefühlt, er konnte sich nicht auf das Bühnengeschehen konzentrieren. Stattdessen phantasierte er, wie er Alexander bald die Faust ins Gesicht schlagen würde, mitten in das breite wohlmeinende Grinsen. Immer wieder, er konnte die Zähne fühlen, die wegbrachen, diese weißen strahlenden Zähne, das Gebiss eines Hundes, dachte er, fletschend und bereit zum tödlichen Biss. Weg damit! Sollte er doch ersticken an seinen eigenen Zähnen. Schlag für Schlag, bis er aufgedunsen und blutverschmiert zu Boden sank.
    Mit Genugtuung betrat Mike mit den Kindern die Häagen-Dazs-Eisdiele am Leicester Square. Nervös sahen sie sich um, gerade so, als erwarteten sie Karin wie einen Geist irgendwo hinter einem der runden Tischchen hervorkommen, um sie schimpfend hinauszujagen. Erst als die Kellnerin drei große Eisbecher an den Tisch brachte, entspannten sie sich. Tara und Selwyn starrten auf die Schokoladensauce, die dick und zäh über die Vanillekugeln floss, als trauten sie ihren Augen nicht.
    »Worauf wartet ihr?«, fragte Mike. »Es schmilzt!«
    Ihre Köpfe beugten sich über die zuckrig-kalten Kugeln, und ihre Gesichter versanken darin. Er bestellte Extra-Schokoladensauce, es sollte nicht zu knapp sein.
    »Wir werden Mummy nichts verraten«, sagte Tara mit vollem Mund, »sie darf nichts wissen.«
    Selwyn nickte eifrig. »Kein Sterbenswörtchen.«
    Mike nickte schweigend, er konnte die Kinder nicht auch noch zum Lügen auffordern. Während das süße Eis auf seiner Zunge schmolz, plante er schon den nächsten Ausflug. »Nächste Woche gehen wir zu McDonald’s«, sagte er verheißungsvoll, und sie sahen ihn an mit diesem offenen, erstaunten Blick. In diesem Moment wusste er, dass er sie in der Hand hatte und sie ihm folgen würden, wohin immer er wollte. Eine teuflische Freude erfasste ihn, wenn er sich vorstellte, wie er mit den Kindern vor Fett triefende Cheeseburger und Pommes frites verschlingen würde. »Die Fresshölle«, wie Karin die Kette mit dem goldenen M nannte. Wenn sie nur sehen könnte, wie ihre Kinder gierig das Eis verschlangen und die Finger genüsslich in die Schokoladensauce tauchten! Er würde ihnen alles geben, was Karin ihnen verbot. Auf dem Heimweg in der Untergrundbahn schien es ihm, als drückten sie sich fester an ihn.
    Zu Hause warfen die Kinder ihre Regenjacken zu Boden und rannten sofort mit dem Computer ins Wohnzimmer. Mike hängte die Jacken in der Garderobe auf und strich sie glatt. Sie tropften noch vom Regen, und er vergrub sein Gesicht in Taras Jacke. Sie roch nach Untergrundbahn und Regenwetter, und irgendwo darunter roch es nach Kind, nach Unschuld und Vorfreude. Er atmete tief, klammerte sich am Stoff fest, während die Tränen an seinen Wangen herunterliefen. Er hörte ihre Stimmen aus dem Wohnzimmer und wie sie den Computer auspackten, das hastige Zerreißen von Karton und Klebeband. Er hörte das Wort »Daddy«, und für einen Moment glaubte er, sie meinten ihn.

Sophies Sommer
    Was sich damals im Sommerhaus der Familie Schmitz ereignete, war für uns alle unbegreiflich, und eigentlich konnte es sich am Ende niemand erklären, woran es lag, dass innerhalb von wenigen Tagen die Familie zerstört war und die Mitglieder sich so fremd wurden, als hätten sie nie etwas miteinander zu tun gehabt.
    Clarice, die einzige Tochter von Martin und Sophie Schmitz, war eine jener Bekanntschaften aus frühesten Kindheitstagen. So wie einzelne Sterne erst aus der Distanz von Lichtjahren ein erkennbares Bild ergeben, entwickelte sich diese Freundschaft, die aus unregelmäßigen Begegnungen bestand, über einen längeren Zeitraum zu einem festen Bestandteil in meinem Leben.
    Clarice hatte große Augen, die sich, je nachdem wie das Licht auf sie fiel, von grün zu blau verfärbten. Es war, als ob sie jedes meiner Wörter, das ich zu ihr
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