Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
Vom Netzwerk:
beim Wasser leben. Von meinem Fenster aus kann ich den Rhein sehen. In der Dunkelheit glänzt das Wasser, schwarz wie Folie.
    Manchmal laufe ich schon morgens über die Brücke, von der Großstadt- zur Kleinstadtseite. Von Ufer zu Ufer. Alles ist still. Die Fenster der Häuser sind dunkel, um vier Uhr in der Früh. Auch du wirst schlafen. Oder schreiben.
    Du hast sie dir ausgesucht. Die Totenstadt. Du sprichst oft vom Totentanz. Auch vom Narrenschiff. Überhaupt die Schiffe: die Lastkähne mit den Sandhügeln drauf, die rheinabwärts treiben. Auf dem Weg nach Rotterdam. Wir verstehen uns. Wir lieben Flüsse und wir hassen Seen. Alles, was sich nicht bewegt, macht uns krank. Der Rhein: ein kleiner Abschnitt vor unserer Haustür. Eine Krümmung des Flussbetts. Hier ist der Fluss besonders breit.
    Im Sommer springen junge Männer von der Mittleren Brücke in den Rhein. Alle schauen zu. Kinder lachen, jauchzen und kreischen. Dann das Warten, bis der Kopf wieder auftaucht aus dem Wasser, die Sekunden zählen. Das Publikum klatscht. Manchmal stirbt einer beim Sprung. Ein kleiner Heldentod.
    Wir sitzen auf der Fähre, und du lachst über den Fährmann, den barfüßigen. Row row row your boat gently down the stream. Ein Kinderlied.
    Dass du unbedingt gerade in diesem Fluss ertrinken musstest! Warum konntest du dich nicht in New York vor die U-Bahn werfen? Eine Zumutung. Du und Mr. Parkinson! Ich kann mir genau vorstellen, wie du mit ihm einen Pakt geschlossen hast.
    Versöhnt hast du dich nicht. Versöhnung passt nicht zu dir. Eher Zwiesprache halten, wie im Fieber, im Hass, in der Verzweiflung. Die Typhoid Mary ist dir wieder begegnet, im Traum. Ihr wildes Haar auf deiner Brust. Die todbringende Glücksbringerin. Geliebt hast du sie. Maria, dein Lieblingsname. Gekichert hast du beim Schreiben – ich kann’s mir genau vorstellen. Du hast sie mit Lust umgebracht, deine Figuren. Der Tod hat viele Gesichter, und du hast oft und gerne über ihn geschrieben. Wie über einen guten alten Freund.
    Wir sprechen auch davon. Mit Begeisterung. Doch nie vom Ertrinken. Erfrieren ist das Beste, sagst du. Erfrorene haben ein Lächeln auf den Lippen. Man schläft einfach ein und träumt sich aus dem Leben raus. Vielleicht ist es wie Fliegen. Geschmeidig und leicht, während im Körper das Blut zu Eis erstarrt. Ich stimme zu. Du bist makaber. Auch sehr lustig. Wie kann ein Friedhof Hörnli heißen?, fragst du. Du machst den Mund, als ob du spucken wolltest. Hörnli. Das ist doch kein Name für einen Friedhof! Père Lachaise. O. K. Aber Hörnli? Unmöglich.
    Eine Kneipe im Kleinbasel. Du magst es dort. Ich nicht. Aber du bestehst darauf, mich einzuladen zum Mittagessen. Ich bestelle einen Apfelsaft und stochere mit der Gabel in der Rösti wie ein Kind. Du redest von Vietnam. Hanoi.
    Die Hitze Asiens. Ich sehe in deinem Gesicht. Eine Landkarte. Ein Abenteuer. Deine Hände auf dem Holztisch. Sie wollten etwas erleben, diese Hände. In die Ferne ziehen und nach Unbekanntem greifen …
    Du bist viel gereist. Das verstehe ich: Rastlosigkeit. Immer in Bewegung. Man sammelt Erinnerungen, während Gegenstände verschwinden. Verlorengehen. In Containern auf Schiffen. Im Frachtraum von Flugzeugen, in Lastwagen. Meine Koffer sind so groß, dass ich mich in der Embryostellung hineinlegen könnte. Du weißt schon, Zigeunerblut. Nie ankommen, immer im Fluss.
    In New York kann man spazieren gehen und den eigenen Namen vergessen – Vergangenheit und Zukunft sind aus den Angeln gehoben. New York ist immer gerade jetzt. Die Lichter blinken um die Wette: Jetzt. Jetzt. Jetzt.
    Ich bin jung, und du siehst in mir den Hunger nach Leben. Du kennst mich. So war ich auch, sagst du oft. So wie du. Ich wohne in einem kleinen Appartement downtown. Du wohnst im Gramercy Park Hotel.
    Die Koordinaten von New York sind klar wie ein Schachbrett. Wir bewegen uns aufeinander zu.
    Es ist Sommer. Im Bryant Park setzen wir uns auf die Wiese. In einem Pavillon wird klassische Musik gespielt. Streicher. Schubert vielleicht. Im Hintergrund Polizeisirenen. Ich ziehe die Sandalen aus. Der Fuß ist noch weißer im grünen Gras. »Schöne Füße«, sagst du und streichelst meine Fersen. Der Fuß zuckt zurück. Dein Lächeln ist schmerzhaft, ich kann ihm ansehen, dass du weißt: Es geht nicht. Nicht jetzt. Nicht später. Nie.
    Auf dem Rückweg schweigst du. Irgendwo hältst du ein Taxi an. Im Rückfenster sehe ich dich auf dem Gehsteig stehen. Verloren, auch du.
    In Basel wurden wir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher