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Die Farben der Finsternis (German Edition)

Die Farben der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Farben der Finsternis (German Edition)
Autoren: Sarah Pinborough
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Prolog
    In dem weitläufigen Büro war es kühl, doch als der Mann auf die grellen, sandigen Straßen von Marrakesch hinaussah, brach ihm unter dem Leinenhemd der Schweiß aus. Das lag nicht an der Temperatur. Er warf noch einen Blick auf das Fax, das offiziell die Diagnose bestätigte, die man ihm vor zehn Minuten am Telefon gestellt hatte. Seine Hände waren feucht. Ihm war flau im Magen und er hatte einen seltsamen Geschmack auf der Zunge. Er kannte das Gefühl. Seit einigen Jahren schlich es sich an, seit den ersten Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Damals dachte er, es verstanden zu haben, hatte aber falschgelegen. Hatte er wirklich je so empfunden? Hatte er wirklich schon vorher so fürchterliche, so schreckliche Angst gehabt? Nein, es war anders gewesen. Ganz anders als das hier. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
    Mit seinen schmalen gepflegten Händen schloss er die Flügeltür zur Veranda auf. Der Duft von Orangenblüten drang ihm ebenso wie die Hitze in die Nase und rauschte an ihm vorbei in jede Ecke seines fast übertrieben elegant ausgestatteten Arbeitszimmers. Als er auf die warmen Fliesen hinaustrat, drang der Lärm der belebten Straßen zu ihm herauf, die jenseits des Gartens und der bewachten Tore verliefen, durch die er vor dem groben, schmutzigen Leben draußen geschützt war. Dort wurde laut gehupt und geflucht, ohne dass sich die Männer, die mit Ziegenmilch beladene Esel an der Leine führten, beirren ließen.
    Von einem der Minarette, die hoch über der Skyline der wimmelnden Stadt aufragten, rief ein Muezzin zum Gebet. Vorbei waren die Tage, als die schlichte Kraft einer menschlichen Stimme die Bevölkerung noch erreichte. Die moderne Welt war zu laut, sodass der Ruf durch Mikrofone und Lautsprecherverstärkt wurde und jede Stimme darum kämpfen musste, die heilige Botschaft zu überbringen.
    In den alten Zeiten hatte er dieses menschliche Ritual der Unterwürfigkeit stets genossen. Er verspürte milde Belustigung angesichts der Menschen, deren Leben von Qual, Trauer und Not geprägt und letztendlich so überaus kurz war und die dennoch leidenschaftlich dem Glauben anhingen, dies wäre das Werk eines liebenden Gottes. Das Netzwerk hatte den Samen für diese Religionen vor sehr langer Zeit gesät und dann zugesehen, wie er sich ausbreitete – aggressives Unkraut, teils wahr, teils erfunden, teils vollkommen menschlich.
    Eine ganze Weile hatte er Zuneigung zu ihnen empfunden, wie ein Kind sie einem kleinen hilflosen Tier entgegenbringt, dessen Leben es in einem einzigen Augenblick der Ungeschicklichkeit zerdrücken konnte. Doch das war vorbei.
    Wieder betrachtete er das Blatt Papier in seiner Hand. Im hellen Sonnenschein blendete es ihn und die schwarzen Buchstaben flirrten, als wallten sie auf der Oberfläche. Der Ruf zum Gebet löste jetzt etwas anderes in ihm aus – Bitterkeit vielleicht. Das Gefühl, betrogen worden zu sein. Plötzlich wäre er gern nach Damaskus gefahren, als könnte er die schonungslosen Fakten auf dem bedruckten Blatt verdrängen, indem er an einen Ort zurückkehrte, an dem er so lange gelebt hatte. Diese Fakten stimmten nicht. Das konnte einfach nicht sein. Solche Dinge waren in dem Plan nicht vorgesehen. Was sollte das sein – ein letzter Witz?
    Der Muezzin kam jetzt richtig in Fahrt: Allahu akbar. Gott ist unvergleichlich groß. Es gibt keinen Gott neben Allah. Kommt zum wahren Erfolg. Allahu akbar.
    Gott ist der Größte. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, dem schalen Geschmack der Angst auf seiner Zunge zum Trotz. Wenn diese Menschen doch nur ihre eigene Geschichte verstünden. Wenn sie nur wüssten, wie wahrhaftruhmreich und grauenhaft sie war; dann sollten sie betend niederknien.
    Er nahm das Telefon hinter sich erst nach mehrmaligem Klingeln wahr. Er hatte sich in der Hitze, dem Leben dort draußen und der Angst in seinem Inneren verloren und überlegte, wie Millionen Menschen jeden Tag damit lebten. Da sich der Anrufbeantworter nicht einschaltete, weckte ihn das Klingeln schließlich aus seinen Tagträumen und er kehrte in sein Büro zurück. Er schloss die Flügeltür gegen die Außenwelt und setzte sich in seinen teuren Ledersessel, um das vertraute Gefühl der kühlen Oberfläche zu genießen, die sein Gewicht aufnahm. Dann legte er das Fax auf die Schreibtischunterlage und griff zum Telefon. Bei jedem schrillen Klingeln leuchtete eine rote Taste auf. Er wusste, was das bedeutete. Er holte tief Luft … fing sich … und nahm
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