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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau
Autoren: Annette Hohberg
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    1
    E s ist wohl dieser Satz gewesen. Dieser eine Satz. Gedankenlos hingeworfen, wie man das mit Sätzen manchmal so macht, nur um irgendwas zu sagen. Eine alte Freundin ihrer Mutter ist es, die ihn ein wenig betrunken auf den Tisch knallt: »Carpe diem ist eine Einstellung, die sich heute niemand mehr leisten kann.«
    Dort liegt er dann, der Satz, zwischen Brotkrümeln und Rotweinflecken und Salzstreuern, zunächst unbemerkt, bis ihre Mutter ihn mit einem »Wie meinst du das?« vorsichtig aufliest.
    Sie beherrscht das gut, dieses leicht lauernde Nachfragen, das Antworten verlangt, Ausflüchte nicht zulässt. Damit hat sie ihren Mann vor Jahren in die Kapitulation getrieben; sie wollte zu viel wissen von ihm, und sie bekam, was sie wissen wollte. Heute, an ihrem fünfzigsten Geburtstag, hat er einen Blumenstrauß geschickt und eine Karte, auf der er ihr viel Glück wünscht. Ihre Mutter hat die Blumen wortlos in einen kleinen Eimer in der Küche gestellt und neben der Spüle stehen lassen. Es sind rote Rosen, die einen merkwürdigen Kontrast zu dem schmutzigen Geschirr bilden, das sich dort im Laufe des Abends angesammelt hat.
    Lina hat sich vorgenommen, mit ihrem Vater zu reden. Man darf seine Frau nicht nach Strich und Faden betrügen und ihr elf Jahre später rote Rosen schicken.
    Und nun sitzt ihre Mutter da, hält ihre eben gestellte Frage in der Hand wie etwas, das leicht zu Bruch gehen kann. Eine Frage wie hauchdünnes Glas. »Was meinst du damit?«
    Das leise Vibrieren in ihrer Stimme löst etwas aus, das man sonst nur aus Konzertsälen kennt – ein Abebben der Gespräche, sobald der Dirigent den Taktstock hebt, hier und da noch ein Räuspern, ansonsten pure Aufmerksamkeit.
    Die Menschen am Tisch sehen zu ihrer Mutter. Viele Freunde aus fünf Jahrzehnten, einige Kollegen aus Redaktionen, wenige Verwandte.
    »Ach, ich meine ja nur … Wer kann denn schon tun, was ihm gefällt?«, versucht die Freundin abzuwiegeln. Es liegt Wohlwollen in der Art, wie sie das sagt. Dieser versöhnliche Schulterschluss-Tonfall, in den Betrunkene gern mal überwechseln und die Konsonanten dabei nicht mehr ganz zu fassen bekommen.
    »Wir sind doch alle nur Feiglinge …«, entgegnet ihre Mutter, und die sechs Worte sind scharf wie hauchfeine Klingen, die bei der kleinsten Berührung Verletzungen hinterlassen.
    »Martha, bitte, was ist in dich gefahren?«
    »… kleingeistige, ängstliche, verklemmte Feiglinge, stets darauf bedacht, nicht von der Spur abzukommen. Immer schön vollkaskoversichert gegen das Leben.«
    »Was wird das hier?«, mischt sich ein Kollege ihrer Mutter ein. »Klassischer Fall von Midlife-Krise, würde ich sagen …« Er lacht. Ein kurzes, verlegenes Lachen, das sich nicht ganz aus der Deckung traut.
    »Carpe diem ist immer eine Option«, schneidet Martha ihm das Wort ab. »Wer aufhört, daran zu glauben, kann sich gleich einen Sarg bestellen.«
    Die Freundin beugt sich vor, als wollte sie Martha damit näher kommen, eine Brücke bauen. »Aber es gibt Pflichten. Es gibt Verantwortung. Es gibt …«
    »Und das erzählst du
mir?
«, unterbricht Martha sie. »Mir, die Lina allein durch Pubertät, Abi und Studium gebracht hat? Die jedes Wochenende im Pflegeheim verbringt, um Papa den Hintern abzuwischen? Die sich im Job vierteilt, um wenigstens die laufenden Kosten begleichen zu können? Mir erzählst
du
was von Verantwortung?«
    Lina sieht ihre Mutter fassungslos an. Ihre Mutter, die es nicht leiden kann, wenn jemand die Beherrschung verliert. Ihre Mutter, die lieber die Tür hinter sich schließt, statt ein Wort zu viel zu sagen. Ihre Mutter, die selbst bei der Scheidung das bewahrte, was ihr alle hoch angerechnet hatten: Contenance.
    Lina spürt, wie ihre eigene Verwirrung auch die anderen am Tisch erfasst, ein unbekanntes Virus, das sich sekundenschnell ausbreitet und gegen das keiner hier so schnell ein Gegenmittel parat hat.
    Sie greift nach der Hand ihrer Mutter, drückt die vertrauten dünnen Finger.
    Martha sieht auf, als hätte jemand sie wachgerüttelt. Streicht sich mit der freien Hand das Haar aus dem Gesicht. Dunkelblondes schulterlanges Haar, ohne Spuren von Grau. Wie ein junges Mädchen wirke sie, hat vorhin einer der Gäste gesagt. Sie trägt ein schwarzes Kleid heute, eines mit Stickereien am Ausschnitt. Dazu etwas Silberschmuck. Die Uhr ist ein altes Geschenk ihres Mannes. Eine Art vorwegnehmender Wiedergutmachungsversuch vor fünfzehn Jahren, als die Ehe noch keine Brüche, sondern
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